Dierk Seidel

Herr Jaaba

Zwei Männer saßen eines Tages in einem Café. Sie waren die Einzigen mit Ausnahme der Bediensteten. Sie saßen mit etwas Abstand voneinander, aßen Torte – der eine Schwarzwälder Kirschtorte, der andere Käsesahnetorte – und tranken dazu Kaffee. Schwarz. Sie tranken ihren Kaffee immer schwarz. Sie mochten das so am liebsten.
Nach einiger Zeit stand der Kirschtortenmann auf, nahm sein Gedeck und ging zum Käsesahnetortenmann.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

„Ja, aber …“

„Genau darum geht es. Ich möchte Ihnen die Geschichte von Herrn Jaaba erzählen. Sie ist mir eben eingefallen.“

„Na, gut. Setzen Sie sich.“

Er setzte sich hin, schwieg und aß seine Torte. Langsam und sehr genüsslich.

„Wollten Sie mir nicht etwas erzählen?“

„Ja, aber Sie können auch einfach fragen. Ich brauche immer etwas, bis ich in den Erzählfluss komme.“

„Sie sind mir ja einer, aber gut, dann lasse ich mich eben darauf ein. Dann finden wir mal heraus, wer dieser Herr Jaaba ist. Hat er einen Hut?“

„Ja, aber nur einen sehr kleinen.“

„Hat er einen Stock?

„Ja, aber er nutzt ihn kaum.“

„Geht er denn gerne spazieren?“

„Ja, aber nur im Sonnenschein.“

„Mir ist das zu kompliziert. Wissen Sie was, ich glaube eigentlich wollten Sie mir gar nichts erzählen. Sie wollten nur nicht alleine da hinten in der Ecke sitzen. Sie wollten Unterhaltung.“

„Ja, aber wäre das so schlimm, wenn es so wäre?“

„Da müsste ich drüber nachdenken, aber ich glaube nicht, was mich stört, ist die Tatsache, dass Sie mich neugierig auf Ihre Geschichte machen, und dann kommt nichts. Das ist doch enttäuschend.“

„Sie haben recht, aber meine Absicht war es nicht, Sie zu enttäuschen.“

„Das wollte Herr Jaaba sicher auch nicht. Herr Jaaba möchte nie enttäuschen.“

„Wie meinen Sie das?“

Und dann legte der Käsesahnetortenmann los:

„Passen Sie auf: Herr Jaaba lebte schon lange allein. Er hatte sich dazu entschlossen, weil er niemanden unglücklich machen wollte. Doch ab und an vergaß er sich selbst dabei. Er trug nur einen sehr kleinen Hut, damit er nicht so auffiel. Aber einen Hut brauchte er, denn er hatte nicht mehr viele Haare auf dem Kopf, und er vertrug weder Sonne noch Kälte. Regen fand er in Ordnung, obgleich ihn sein kleiner Hut auch davor schützte. Er ging gerne spazieren, aber nie sehr lange Strecken. Er war in Sorge, dass mit seinem Zuhause etwas passieren könnte. Was wäre nur, wenn er vergessen würde, die Lichter auszustellen, oder wenn die Batterie seines Rauchmelders das Zeitliche segnen und der Alarm ausgelöst werden würde. Der Alarm würde alle im Haus aufschrecken, Panik verursachen, die Feuerwehr würde kommen. Das alles wollte er nicht, also ging er schon nach kurzen Wegen schnell wieder nach Hause. Zuhause fühlte er sich sicher, aber auch einsam. Das war der Preis. So verletze ich niemanden, dachte er, aber so ganz sicher war er sich nicht, ob das der richtige Weg sei. Herr Jaaba hörte gerne Musik, aber nicht zu laut – die Nachbarn. Herr Jaaba trank gerne mal einen Schluck Wein, aber nur am Wochenende und auch keinen teuren. Wenn er das Haus verließ, lauschte er immer ganz intensiv an der Tür, dass auch ja niemand im Treppenhaus wäre. Reden mit Menschen war ja eigentlich okay, aber spontanen Smalltalk fand er doch immer ganz schön anstrengend.

Heute war Herr Jaaba etwas durcheinander. Der Riemen seines Schallplattenspielers hatte am Abend zuvor den Geist aufgegeben, aber er hatte sich nicht rechtzeitig um Ersatz bemüht und außerdem hatte vor Kurzem der einzige Hi-Fi-Laden des Ortes geschlossen. So musste er Radio hören, das war an sich okay, aber diese elende Werbung störte ihn. Er wollte Kaffee trinken, aber er hatte vergessen, welchen zu kaufen. Brot war auch nicht mehr da. Herr Jaaba war durcheinander.

Er lauschte an der Wohnungstür. Es schien sicher. Alles ruhig. Er öffnete vorsichtig die Tür,blickte raus und schlug sie sofort wieder zu. Draußen saßen Mona und Max, die Kinder von gegenüber. Eigentlich waren sie ganz in Ordnung, aber heute waren sie ihm zu viel. Aber was sollten sie von ihm denken und was denken sie jetzt von ihm, fragte er sich. Er brauchte noch ein paar Sekunden und entschloss sich zum Angriff. Dann öffnete er die Tür und betrat das Treppenhaus. Er schaute zu den beiden runter und sagte:

„Ihr denkt bestimmt, der ist doch verrückt.“

„Wir denken gar nichts“, sagte Mona.

„Aber ihr müsst doch etwas über mich denken.“

„Na ja, wir denken schon manchmal, dass Sie etwas seltsam sind, weil man sie ja so selten sieht. Aber gerade im Moment haben wir nicht an Sie gedacht“, ergänzte Mona.

„Vielmehr könnten wir ja eher uns fragen, was sie wohl über uns denken, so wie wir hier einfach so im Treppenhaus sitzen. Das finden ja viele nicht okay. Einfach mal sich irgendwo hinsetzen“, sagte Max.

„Ja, da hast du wohl recht, aber da habe ich gar nicht drüber nachgedacht. Warum sitzt ihr denn hier?“

„Weil wir gerade vom Klimastreik kommen und uns kurz ausruhen.“, sagte Mona.

„Streik? Aber sowas bringt doch nichts. Der Politik ist die Umwelt doch egal.“

„Sie können auch immer nur aber sagen. Das hat schon unsere Mama gesagt. Sagen Sie doch mal und“, sagte Max.

„Wie meinst du das?“

„Naja, ganz einfach, zum Beispiel so: Der Politik ist die Umwelt doch egal. Und gerade deshalb müssen wir denen zeigen, dass es uns nicht egal ist. Kein aber, sondern und. Es muss doch weitergehen und mit aber geht man immer einen Schritt zurück.“

„Da ist wohl was dran, aber da muss ich erstmal drüber nachdenken.“

„Oder: Da ist wohl was dran, und das muss ich mir zu Herzen nehmen“, korrigierte Mona Herrn Jaaba.

„Was ist eigentlich mit Ihnen heute los“, fragte sie ihn weiter, Sie sehen heute irgendwie durcheinander aus.“

„Werbung macht krank und mein Kaffee ist alle. Das macht mich ganz wirr im Kopf.“

„Dann gehen Sie doch unten in dieses kleine Café an der Ecke und trinken eine schöne Tasse Kaffee“, schlug Max vor.

„Aber…“

„Und essen noch ein schönes Stück Schwarzwälder Kirschtorte dazu“, ergänzte Mona.

Dann standen die beiden Kinder auf, schlossen ihre Wohnungstür auf und waren verschwunden. Herr Jaaba nahm Stock und Hut und machte sich auf den Weg.

Und so endet die Geschichte von Herrn Jaaba und jetzt sind Sie hier und essen Schwarzwälder Kirschtorte, trinken Kaffee, ich esse Käsesahnetorte und trinke Kaffee.“

„Und das ist gut so?“

„Ja, aber ohne Fragezeichen.“