Heiner und Helmut machen Musik
Bonuskapitel zum Buch „Onkel Heiner“
Dierk Seidel
Heiner hetzte die Straße entlang Richtung Büdchen. Er hatte Felicitas zur Bahn gebracht und gesagt, dass er sich um Heiner kümmern müsse. Aber das war Quatsch, dachte er. Zum einen verdrängte er das Thema schon seit Monaten und zum anderen, was sollte er jetzt so plötzlich ausrichten. Heiner war bestimmt zu Hilde gezogen und kümmerte sich um die anderen Kneipen, die ihr gehörten. Dass seine Kneipe dicht blieb, war doch nur, um ihn zu provozieren.
»Schorschi, gib mir noch mal zwei 0,4.«
»Heiner, du bist alleine.«
»Ja, ist das ein Problem?«
»Schon gut.«
Heiner trank sein zweites Bier aus und es folgten noch weitere.
»Heiner, das muss jetzt fast vierzig Jahre her sein, dass du zuletzt hier warst. Willst du nicht erzählen, was in all den Jahren passiert ist?«
»Das, mein lieber Schorschi, ist ein Geheimnis. Außerdem, warum sollen eigentlich immer nur dir die Leute etwas erzählen? Erzähl du doch was!«
»Ich habe nichts zu erzählen, ich stehe hier seit fünfzig Jahren, seit Vaddern gestorben ist, höre mir an, was die Leute erzählen, mache morgens etwas Gymnastik und gut is.«
»Na dann ist ja gut. Ich muss jetzt schlafen. Ich bin ganz schön müde.«
»Auf die Straße kannst nicht mehr, so wie du schon schwankst. Ich mach dir hinten im Lager ein Feldbett fertig.«
Heiner schlief bis zum Nachmittag. Dann streckte er sich und schaute sich um. Er hatte zwischen Bierkästen, Süßigkeiten, Schokolade und einem riesigen Vorrat Toilettenpapier geschlafen. Sein Feldbett stand mittig im Raum, drumherum Regale und am Ende zwei Türen: Eine führte in das winzige Badezimmer, die andere in den Innenhof. Dort stand Schorschi und rauchte.
»Dein Bruder kommt gleich, um dich abzuholen.«
»Woher weißt du das? Hat er angerufen?«
»Ach, das war doch früher schon immer so. Immer, wenn du zu viel hattest und nicht mehr nach Hause konntest, hat Helmut dich hier abgeliefert. Helmut ist so ein richtiger Kümmerer, ich sag es dir, der kommt gleich.«
»Da kann ich mich gar nicht mehr dran erinnern. Ich weiß nur noch, wie er sagte, das kann doch nicht sein, dass wir nicht einen Song auf die Kette kriegen, du bist raus, wir machen die Band ohne dich. Dann bin ich gegangen und in den nächsten Zug.«
Im Verkaufsbereich klopfte jemand an die Scheibe. Schorschi drückte seine Zigarette aus, schloss die Tür und ging nach vorne. »Helmut, schön, dass du da bist.«
»Schorschi, ich suche meinen Bruder, ist er hier?«
»Du weißt, wo«, sagte Schorschi und öffnete die Tür. Helmut ging zielstrebig nach hinten und umarmte seinen kleinen Bruder. »Mutter sagte, du seist schwul. Warum hast du nie was gesagt? Ich dachte, es wäre alles wegen Linda.«
»Nein, ich habe einfach kein Taktgefühl. Schlechte Voraussetzung für den Sänger einer Band.«
»Wir hätten Punkrock machen sollen.«
»Hätte wäre auch ein schöner Name für eine Band. Was machen wir jetzt?«
»Wir spielen ein letztes Konzert«, sagte Helmut.
»Wer ist wir?«
»Die Band! Linda, Rico, du und ich.«
Heiner realisierte, dass Helmut es ernst meinte, und er strahlte.»Wir brauchen als Erstes die alte Band. Rico und Linda und Instrumente«, sagte er.
»Und einen Probenraum. Und wo treten wir auf?«
»Eins nach dem anderen. Schorschi, weißt du, wo Linda und Rico leben?«
»Linda wohnt in Gelsenkirchen-Buer, die steht im Telefonbuch«, er warf den beiden ein Telefonbuch zu. »Von Rico hab ich ewig nichts gehört.«
Helmut reizte die Internetsuche voll und ganz aus, doch zu Rico fand er nichts. »Immerhin haben wir Lindas Adresse. Ich rufe kurz Anne an, dann können wir aufbrechen.«
Einige Stunden später wurde eine Haustür in Gelsenkirchen-Buer geöffnet. Ein Junge im Kindergartenalter stand vor Helmut und Heiner und sagte nichts. Er starrte die beiden einfach nur an.
»Ähm, hallo, ich bin Heiner, das ist Helmut, wir suchen Linda, ist die vielleicht hier?«
»Nööö, ich kenne keine Linda.«
»Aber die soll eigentlich hier wohnen«, sagte Helmut.
»Hier wohnen nur Oma und Opa.«
»Ach, so ist das, magst du mal deine Oma holen?«
»Okay.«
Der Junge knallte die Tür zu und brüllte los: »Oma, Oma, zwei alte Männer wollen zu dir.«
Einen Moment später wurde wieder geöffnet, und noch im Türspalt sagte Linda: »Wir kaufen nichts an der Tür.«
»Wir wollen auch nichts verkaufen, Linda, wir wollen einen letzten Auftritt mit der Band. Wir sind es, Helmut und Heiner«, sagte Helmut.
Linda lächelte. »Euch beide zusammen hätte ich am wenigsten erwartet. Kommt rein, und du, Heiner, du riechst wie drei Tage Bandkeller, willst du mal duschen?«
Nach einer wohltuenden Dusche folgte Heiner dem Geruch von Kaffee in die Küche.
»Heiner, es ist alles geklärt«, sagte Helmut, »Linda ist dabei, morgen besorgen wir Instrumente und Montag fahren wir irgendwo aufs Land zu Rico und proben.«
»Und Freitag spielen wir unseren Gig hier in Buer an der Stadtwaldmauer. Wir nennen das Konzert zur Erinnerung an alte Zeiten: Another Gig on the Wall.«
»Arschlöcher«, sagte Heiner und lachte.
Am nächsten Tag klapperten sie zu dritt alle möglichen Proberäume und Bandkeller ab und fragten nach Equipment.
Völlig erschöpft haute Linda nach der letzten Station die Heckklappe ihres Kombis zu. »So, wir haben alles zusammen. Einer muss morgen den Bus nehmen. Hier passen nur noch zwei Leute rein. Beim Auftritt hilft uns Rüdiger, mein Mann.«
Rico wohnte auf einem großen Hof in einem Wohnprojekt mit vierundzwanzig anderen.
»Wir machen alles als Selbstversorger«, sagte Rico, während er sie über die Anlage führte.
»Aber Strom habt ihr?«, fragte Linda.
»Ja, da kommen wir nicht drumrum. Lasst uns mal in der Scheune aufbauen.«
Als fertig aufgebaut war, kam Heiner von der Bushaltestelle her angelaufen. »Puh, Leute, das war ’ne Schaukelfahrt, fast wär mir schlecht geworden. Hallo Rico.«
»Hallo Heiner, lang ist es her. Gut siehst du aus. Seit wann trägst du denn Hut?«
»Ach.«
Die Proben begannen. Heiner war nervös und verpatzte direkt dreimal den Einsatz.
»Ich weiß nicht, wieso ich gedacht hatte, dass es jetzt plötzlich klappt«, sagte Helmut.
»Ich habe eine Idee, wie wäre es, wenn wir für die Proben Heiners Mikro runterdrehen, dann hört nur der, der ganz in der Nähe ist, ob er richtig singt«, schlug Linda vor.
Mit dieser Strategie verliefen die weiteren Proben überraschend gut. Heiner war total entspannt und traf jeden Einsatz, sogar den bei Another Brick in the Wall. Abends saßen die vier bis spät in die Nacht zusammen und quatschten über alte Zeiten.
Am letzten Abend vor dem Konzert sagte Heiner: »Wir sagen aber keinem was von dem Konzert und von dieser Woche, oder?«
»Rüdiger weiß eh schon davon«, sagte Linda.
»Meine Mitbewohnys wissen auch alles«, sagte Rico.
»Ich meinte mehr so unsere Familie. Helmut, was sagst du dazu?«
»Ich habe jeden Tag mit Anne telefoniert und sie auf dem Laufenden gehalten, zumindest mit den wesentlichen Dingen.«
»Also ein Geheimkonzert mit Rüdiger, Ricos Mitbewohnys, Anne und denen, die einfach so kommen«, schloss Heiner.
Am nächsten Tag kam Rüdiger und sie fuhren mit zwei Wagen in die Stadt. Sie wollten nicht lange spielen, denn mehr als drei Lieder hatten sie nicht drauf. Gegen siebzehn Uhr waren sie am Stadtwald und bauten alles auf. Rüdiger hatte nach einem Anruf von Linda noch etwas extra Equipment dabei. Heiner bekam ein In-Ear-Monitorset, über das er die Band sehr laut hören konnte, aber nicht sich selbst. Schorschi hatte in seinem Büdchen ein bisschen Werbung gemacht und es waren sieben Stammgäste da, dazu ein paar Mitbewohnys von Rico, Rüdiger, und ein Mann vom Ordnungsamt.
»Ich hole gleich noch jemanden von der Feuerwehr, ich traue dem Generator nicht«, sagte der mehrfach, aber es geschah nichts. Um halb sieben hing ein Mitbewohny von Rico ein Banner an einem Baum auf.
Another Gig on the Wall
Die Band »Jesses Surface« nach 40 Jahren wiedervereint. Nur heute.
Dann ging es los. Sie performten Lady in Black, Smoke on the Water und zuletzt Another Brick in the Wall. Und Heiner? Der traf jeden Ton und jeden Einsatz. Sie feierten ihren großen Auftritt vor Schorschis Bude bis spät in die Nacht.
»Wahnsinn, Heiner, das war großartig!«, sagte Helmut den ganzen Abend.
Heiner kicherte vor Freude.
»Warum war Anne eigentlich nicht da, Helmut?«
»Sie hatte kurz vor dem Gig geschrieben, das sei unser Ding, wir sollen den Abend genießen, aber morgen pünktlich zum Pommes- und Bratwurstessen kommen.«
»Schon wieder Samstag«, sagte Heiner.
»Schon wieder Samstag«, antwortete Helmut.
