Dierk Seidel
Geschichten zur Musik
Ich entdeckte auf einer Seite für Schulmaterialien folgende Aufgabe:
Gib deinen Lieblingssong ab, die Lehrkraft erstellt eine Playlist und in der folgenden Stunde wird die Playlist gehört und in einem Quiz erraten, wessen Lieblingslied es ist. Es dürfen keine sexistischen, rassistischen oder gewaltverherrlichenden Lieder sein.
Ich dachte, gute Idee, das mache ich. Es war die letzte Stunde mit den Zehnern. Die Schüler:innen fanden die Idee auch so weit gut. Im Eifer des Gefechts vergaß ich leider die Songeinschränkungen. Beim Erstellen der Playlist filterte ich also direkt mal ein paar grenzwertige Stücke aus. Das war eigentlich zu erwarten.
Währenddessen machte ich mir Gedanken, was mein Lieblingssong ist, und dann hatte ich das Gefühl, dass diese Aufgabe nett gemeint ist, aber eben auch nur das. Klar, man kann im Unterricht flexibel mit Aufgaben umgehen, hast du keinen Lieblingssong, dann nimm den, der dir zurzeit gut gefällt, aber die Grundidee suggeriert, dass man in jedem Fall einen Lieblingssong hat und das ist doch Quatsch. Ich machte mir so meine Gedanken, was mein Lieblingssong ist und schon die Tatsache, dass ich etwas überlegen musste, zeigte mir, dass ich nicht den einen habe. Songs stehen in Beziehungen zu Lebensphasen. Nicht immer, aber es kommt durchaus vor. Lieblingssongs sind temporär und ploppen hin und wieder auf. Sie haben Geschichte oder werden Geschichte. Ich erzähle euch ein paar wenige Geschichten von so vielen Liedern, die mich begleitet haben und noch begleiten.
Das Lied „Spread your Wings“ von Queen hörte ich mit elf oder zwölf Jahren recht viel. Es beginnt mit Klavier und Gesang, nach sechs Versen setzt die Gitarre ein. Mercurys Gesang wird kräftiger und ich schlug mit der Faust, passend zum Rhythmus, in meinem Kinderzimmer auf den Korkfußboden. Die CD setzte kurz aus, ich hatte keinen Anti-Shock-Modus in meinem tragbaren CD-Player. Ich hörte das Lied oft und sang meist lauthals mit.
Im August 2002 sollte es sein: Mein erstes Toten Hosen Konzert in Aurich Tannenhausen. In dem Jahr hatten die Hosen eine Kollaboration mit der Brauerei Diebels und ihre Konterfeis waren auf den Dosen abgedruckt. Lange Zeit habe ich sie ehrfürchtig aufbewahrt, um sie letztlich doch zu entsorgen. Wir fuhren mit einem übervollen Bus von Leer nach Aurich. Auf dem Weg sangen wir auf die Melodie des Refrains von „Alles wird gut“ die Zeilen Wir sind auf dem Weg nach Aurich Tannenhausen, auf dem Weg zum Hosenkonzert.
Nach diversen Vorbands ertönte als Intro die Sirtaki Melodie. Wie auf einem Piratenschiff wurde die schwarze Flagge mit dem weißen Adlerskelett gehisst. Sie sollte mich auf einigen weiteren Konzerten begleiten. Andächtig starrte ich die Flagge an. Jetzt ging es los. Mein erstes Hosenkonzert. Die Bühnenscheinwerfer gingen an, die Band rannte auf die Bühne und die ersten Takte von „Auswärtsspiel“ begannen. Beim Rest verschwimmen die Erinnerungen. Bald sind es 20 Jahre. Mein erstes Hosenkonzert.
Ich könnte zu vielen Liedern der Doors schreiben. Freunde würden vielleicht sagen, nimm „Whiskey, Mystics and Men“, weil ich das immer so „schön“ gesungen habe. Ich möchte aber nur kurz erwähnen, dass ich mal auf einer Party bei „Break on through“ von den Doors auf einen Stuhl stieg, darauf hochsprang und durch ihn durchbrach. Nicht geplant und dennoch Geschichte. Auf einem Schulaustausch nach England und als Kleinstädter ohne Plattenladen fragte ich meine Gastmutter, ob es in der Nähe einen Plattenladen gebe. Ich suche Doorsplatten. Sie recherchierte und ich ging eines Nachmittags dorthin. Ich fragte freundlich nach Doorsplatten. Der Verkäufer, ein ziemlich bulliger Typ, sagte: „Ah, du bist der kleine Dieb, dessen Mutter mich gewarnt hatte.“
Ich guckte ihn völlig verwirrt an. Was hatte ich getan? Einen Moment später begriff er, dass ich nicht begriff. „Nur nen Scherz. Die Platten sind dort vorne.“ Und dann begriff ich. Stolz brachte ich drei Platten von den Doors mit nach Hause. Platten aus England. Der Wahnsinn. Später stellte ich fest, dass sie in Deutschland gepresst wurden.
Thees Uhlmann schrieb ich mal einen Brief. Ich habe keine Ahnung, ob er den gelesen hat oder ob er überhaupt angekommen ist. Darin erzählte ich ihm auch von meinem ersten Hosenkonzert, da er in seinem Buch über die Hosen sehr ausführlich sein erstes Konzert beschrieb und ich Parallelen erkannte. Aber es ging auch um das Lied „Danke für die Angst“.
Ich schrieb:
„Danke für die Angst“ ist der Wahnsinn. Ein Lied, bei dem ich so viel empfinde und fühle, obwohl ich tatsächlich von Stephen King nur „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ und „Das Leben und das Schreiben“ gelesen habe, sowie die Verurteilten, Stand by me, Green Mile und der Musterschüler gesehen habe.
Einfach ein starkes Lied. Und mehr gibt es da jetzt auch nicht zu sagen.
Vertraut man der Spielhäufigkeit von Spotify und macht man die Lieder dann zu seinen Lieblingssongs, wären es wohl aktuell „Alles wird wieder OK!“ von den Broilers, „Fliegen“ von Dritte Wahl, „Insel der Jugend“ von Treptow und „Der Traum ist aus“ von Ton Steine Scherben“. Aber auch sonst gibt es noch so viele Perlen der Musik, die ich oft und gerne höre. Sind es Lieblingssongs? Bestimmt. Wer weiß? Vielleicht.
Beim Musikquiz mit den Zehnern konnten die Schüler:innen einander größtenteils richtig einschätzen und es war eine runde letzte Stunde. Nur wenige Songs sprachen mich an. Ein neuer Lieblingssong war für mich nicht dabei. Es wäre seltsam, wenn es anders wäre.
Anekdoten und Lieblingsliedlisten können nur unvollständig sein. Musik hörend geht es nun in eine Sommerpause. Ab 1. September geht es hier weiter mit Geschichten, Gedichten und anderen Betrachtungen.
Die Lieder zum Nachhören:
https://open.spotify.com/playlist/5eKJ27EdsDq6AVl9LKtUfV?si=dacaa49f76e04178
https://www.youtube.com/playlist?list=PLp5esQiMfGU9CVn7QTnHxspUmFlSDjF8Z