Dierk Seidel

Es gibt Häuser, nicht viele, die höher sind als dieses, und dennoch sind es Geschichten von oben, die so kommen und gehen. Mal kurz, mal lang. Im Dämmerlicht. In der Morgensonne. In tiefster Nacht oder auch ganz zeitlos. Geschichten von oben.

Sitzen ganz oben

Ich sitze auf der Toilette und verliere mich in meinen Träumen.

Ich sitze in meinem Sessel im Arbeitszimmer und spiele auf der Gitarre den einzigen Song, den ich je komplett auswendig gelernt habe. Den Bard-Song von Blind Guardian.

Ich sitze im Schneidersitz in der Mitte des Flurs meiner Wohnung und betrachte den Staub, der sich um den Kabelrouter sammelt.

Ich sitze vor dem Ofen in der Küche und erfreue mich daran, wie der Nudelauflauf mit viel Käse immer knuspriger wird.

Ich sitze auf der Fensterbank in der Küche am offenen Fenster und blicke nach draußen. Ich sehe, wie an der Baustelle des neuen, absolut notwendigen Hotels Fenster eingesetzt werden.

Ich sitze vor dem Fernseher und stecke HDMI-Kabel um. Es ist immer eines zu wenig im Haus. Aber hey, wenn jemand noch ein SCART-Kabel braucht, dann ruft kurz an, wir finden sicher noch was.

Ich sitze am Schreibtisch und will Arbeiten korrigieren und gucke stattdessen YouTube-Videos.

Ich sitze auf den Treppenstufen vor unserem Haus und warte auf Freunde. Und darauf, dass eine der Nachbarinnen rauskommt und mich verscheuchen will, weil sie mich auf die Schnelle nicht erkennt.

Ich sitze auf den Treppenstufen vor unserer Wohnung und ziehe mir Schuhe an. Sie sind noch nass vom letzten Regen. Es regnet viel, wenn die Sonne nicht scheint.

Ich sitze vor meinem Schallplattenregal und bringe kleine Ausreißer wieder in die richtige Sortierung und überlege, was ich denn gleich hören könnte. Ich wähle „Stadt Land Flucht“ von 100 Kilo Herz. Ein wenig Ska-Punk kann ja nicht schaden, denke ich.

Ich sitze auf einem Klappstuhl auf dem Balkon und trinke eine Tasse schwarzen Tees mit Kluntje. Auf die Sahne verzichte ich heute. In den kleinen Teetassen darf der Kluntje oder auch Kandis, wie man mancherorts sagt, nur so gerade eben bedeckt sein. Gerüchten zufolge hat mein Opa des Öfteren seinen Tee stehen gelassen, wenn die Tasse zu voll war. Ich empfinde es immer als nervig, wenn eine Tasse kaum befüllt ist. Aber vor den bösen Blicken meiner Oma, wenn ich eigenmächtig nachschenken wollte, hatte ich dann doch etwas Respekt und gab mich den Traditionen hin.

Ich sitze auf einer Yogamatte und versuche zu meditieren. Es bleibt bei dem Versuch. Die Baustelle.

Ich sitze auf dem Dach des Hauses und betrachte die Welt. Wie weit man doch gucken konnte, bevor das Hotel hier hochgezogen wurde.

Ich sitze auf der Toilette und verliere mich in meinen Träumen, als plötzlich ein „wooo hoo“ von außen hinter dem nahegelegenen Fenster ertönt. Ich schrecke hoch. Ist da jemand? Können die Bauerarbeiter:innen mich von der Baustelle sehen? Haben sie gewoot? Ich schiebe leicht den Vorhang zur Seite. Auf dem Fenstersims sitzt eine ziemlich fette Taube und woot. Ich nenne sie Paul.