Dierk Seidel

Aus der Reihe: Geschichten von oben

Es gibt Häuser, nicht viele, die höher sind als dieses, und dennoch sind es Geschichten von oben, die so kommen und gehen. Mal kurz, mal lang. Im Dämmerlicht. In der Morgensonne. In tiefster Nacht oder auch ganz zeitlos. Geschichten von oben.

Schön gemacht

Unser Mehrfamilienhaus ist ein sehr schönes Haus. Schön hoch, schöne Treppen, schöne Haustür, schöne Wohnung, schöne Bewohner:innen. Was allerdings nicht so schön ist, ist die Tatsache, dass dieses Haus viele Treppen hat. Geht man durch die Haustür hinein, muss man zuerst sieben Stufen hoch in den eigentlich Flur, wo die Briefkästen angebracht sind und in der Weihnachtszeit der Weihnachtsbaum steht. Möchte man nach ganz nach oben, sind es 82 Stufen. Hoch aufs Dach sind es nochmal acht Stufen. Von unten aus dem Eingangsbereich sind 15 Stufen in den Keller und möchte man vom Eingangsbereich in den Innenhof, wo sich die Mülltonnen befinden, sind es nochmal acht Stufen.

Letzteres ist nervig und zeitweise ein Problem. Müssen die Mülltonnen vorne an die Straße, bedeutet das, dass sie acht Stufen hoch in den Eingangsbereich müssen und dann sieben Stufen runter, um zur Haustür zu gelangen. Und schlussendlich sind es dann nochmal zwei Stufen bis zum Bürgersteig.

Komfortabel für uns Bewohner:innen, gibt es einen Mann, der regelmäßig die Mülltonnen nach vorne bringt. Doch eines Tages war er nicht mehr da. Kurzfristig sprang ich ein. Aber es brauchte ein System. Es soll keinen Durchzug geben, außerdem soll der Hauseingang ja nicht zu lange geöffnet sein, ohne dass jemand aufpasst. Es ist ja schließlich eine richtig, richtig, richtig, richtig gefährliche Gegend hier.

Also alle Mülltonnen erstmal in den Eingangsbereich tragen. Tragen ist wesentlich angenehmer als die Treppen hochpoltern. Tonnen sammeln, Tür zum Innenhof verschließen. Haustür aufsperren und Tonnen raustragen. Am nächsten Tag alles wieder zurück. Erstaunlich, leer sind sie gar nicht so viel leichter.

Am Wochenende drauf kam wieder der Anruf:

„Können Sie nochmal einspringen?“

„Klar, kein Problem.“

Es ist nicht so, dass ich unbedingt gerne Mülltonnen durch die Gegend trage, aber gerade in Zeiten von Homeoffice und ohnehin wenig Abwechslung sind es willkommene zehn Minuten in der Woche, die man mit Aktivität verbringt.
Die Woche drauf kam kein Anruf, aber ich erfüllte dennoch meine Aufgabe und die Woche danach auch. Und danach auch und auch die Woche danach.

Zwischendrin gab es dann Gespräche:

„Gut, dass sie das machen. Wir anderen können das ja nicht. Und immer so leise.“

„Das ist kein Problem. Aber, ich betone, ich möchte keinem was wegnehmen.“

„Nein, nein, so ist das ja auch gar nicht.“

Ein Feiertagswochenende lag an, ein mittlerweile routinierter Blick auf den Abfuhrplan zeigte mir, dass ich noch einen Tag Luft habe, als das Telefon klingelte.

„Er ist wieder da. Wir brauchen Sie nicht mehr.“

„Danke für die Info, das ist ja so auch besser so. So ist ja alles wie immer, wie gut, wollte ja keinem was wegnehmen“, sagte ich und legte auf.

Betrübt setzte ich mich auf das Wohnzimmersofa. Am nächsten Tag sitze ich immer noch betrübt auf dem Sofa und frage ich mich, ob er auch alles richtig macht.