Dierk Seidel

Prolog

17 Turmdrehkräne kann ich zählen, wenn ich auf dem Dach des Mehrfamilienhauses stehe und mit der Panoramafunktion meiner Augen den Himmel betrachte. 17 Kräne auf maximal 17 Baustellen. Baustellen, an denen Bürokomplexe, Einkaufszentren, Hotels und Luxusapartments erschaffen werden, aber in den seltensten Fällen Wohnraum, den sich alle leisten können. Das wäre aber auch vermessen so etwas zu fordern. Mit unserer Wohnung hatten wir vor ein paar Jahren Glück, es muss mittlerweile noch viel schwieriger sein, eine Wohnung zu finden. Und immer schön den Abschlag zahlen, hört man dann.

„Für das Billyregal hätten wir noch gerne 300 €. Man muss schließlich auch die Wertsteigerung solcher Regale bedenken.“

Mmh, klar, denke ich, aber dann hat man doch bezahlt. Den Duschvorhang, die Küchenzeile, den Heizungsentlüftungsschlüssel, das Reh, das im Eingang steht, die Ente in der Badewanne.

„Ich möchte ein „S“ kaufen“, sagst du und ich möchte lösen und sage: „sauteuer“. Münster ist sicherlich nicht so ein heißes Pflaster wie Berlin. Wer über die Odyssee der Wohnungssuche in Berlin was erfahren möchte, liest am besten „Ein Haus auf dem Land/ Eine Wohnung in der Stadt“ von Jan Brandt. Um Wohnungssuche soll es hier ja gar nicht gehen. Vor einiger Zeit waren es mal 18 Kräne. In einem aufwändigen Akt wurde vor ein paar Wochen ein Kran aus dem Innenhof herausgebaut. Ca. 10 Stunden brauchten ein anderer Kran (ein gelber Teleskopkran!) und ein Dutzend Menschen, um ihn abzubauen. Spannend war das.

Ich setze mich auf einen Mauervorsprung neben den Schornstein, öffne ein Bier und blicke auf die Sonne, die hinter zwei Kränen untergeht. Es gibt Häuser, nicht viele, die höher sind als dieses, und dennoch sind es Geschichten von oben, die so kommen und gehen. Mal kurz, mal lang. Im Dämmerlicht. In der Morgensonne. In tiefster Nacht oder auch ganz zeitlos. Geschichten von oben.

Der Baum

Nun beginnt die Adventszeit. Das ging schneller, als man meinte. Dieses Jahr ohne Weihnachtsmarkt, das war lange ungewiss. Aber etwas anderes ist noch ungewiss:

Seit unserem Einzug vor fünf Jahren habe ich von der Hausverwalterin einen Auftrag. Immer kurz vor dem ersten Advent hole ich aus einem kleinen Lagerraum im Innenhof einen fix und fertig geschmückten Plastikweihnachtsbaum und stelle ihn im Hausflur auf. Die kleinen LED-Leuchten erhellen fortan das Treppenhaus und erzeugen eine schöne vorweihnachtliche Stimmung, die sonst kaum im Alltagsstress aufkommen mag. Denn es ist ja meist so, dass die Weihnachtszeit viel zu plötzlich auftaucht, und genau dann hat man ja nicht plötzlich mehr Zeit zur Verfügung, sondern braucht eigentlich mehr Zeit. Besinnlich sein, Geschenke kaufen, Gedanken machen, Gedanken machen neue Gedanken und immer unter Strom. Aber wenn man nach Hause kommt und der Baum leuchtet, dann ist schon viel erreicht.
Aber wie wird es nun dieses Jahr werden? Nein, Corona wird die Weihnachtsstimmung, die der Baum erzeugt, nicht verhageln können, aber seit einiger Zeit hat eine unserer Nachbarinnen einen klappbaren Rollator, den sie genau da abstellt, wo in ein paar Wochen der Baum hinkommen soll. Innere Unruhe breitet sich in mir aus und sie wird erst gebremst werden, wenn der Anruf kommt und am anderen Ende der Leitung eine etwas ältere Stimme sagt: „Es ist Weihnachtszeit, der Baum…“ laufe ich schon los. Fünf Stockwerke im Eiltempo runter und in den Innenhof und bleibe dann doch nachdenklich stehen.

„.. der Baum kann nach vorne.“,

„.. der Baum kann dieses Jahr nicht…“

„… der Baum passt dies Jahr nicht…“

Ich gehe die fünf Stockwerke wieder hoch, greife das Telefon und sage:

„Entschuldigen Sie, können Sie wiederholen, was sie sagen wollten? Da war so ein seltsames Rauschen in der Leitung.“