Dierk Seidel

Es gibt Häuser, nicht viele, die höher sind als dieses, und dennoch sind es Geschichten von oben, die so kommen und gehen. Mal kurz, mal lang. Im Dämmerlicht. In der Morgensonne. In tiefster Nacht oder auch ganz zeitlos. Geschichten von oben.

Isa Meyer, Kranführerin

Sie liebt den Blick, den sie von oben hat. Alles ist so winzig und unbedeutend, so meint man. Aber sie, Isa Meyer, Kranführerin, braucht gute Augen und ein gutes räumliches Denken. Mit ruhiger Hand lenkt sie ihren Liebherr 112er. Sie weiß genau, was sie machen muss. Sie ist in ihrem Element. Ihre Zusatzausbildung zur Kranführerin war kurz, aber vollkommen ausreichend. Ein paar Schwierigkeiten hatte sie zu Beginn mit dem Abfangen von Pendelbewegungen, aber das ist mittlerweile Routine geworden.

Jeden Morgen schlüpft sie in ihre Schutzausrüstung und muss immer ein wenig daran denken, wie sie mit ihren Kindern regelmäßig nach Ibbenbüren in den Kletterwald fährt und an die Routine, die man dort, aber auch beim langen Aufstieg auf den Kran entwickelt. Immer darauf achten, dass mindestens eine der beiden Sicherheitsschellen eingerastet ist. Nie ungesichert im Turm klettern. Nie und niemals. Neue Kräne werden häufig mit kleinen Aufzügen ausgestattet. Aber das wollen sich die wenigsten Unternehmen leisten.

Isa Meyer beendet ihre Schicht. Schließt ihre Kabine von außen ab und tritt den Abstieg an. Einhaken, lösen, einhaken, lösen, einhaken, lösen, bis sie unten ist. Manchmal fragt sie sich, warum sie überhaupt abschließen muss. Schließlich wäre es doch eine Erleichterung für die Person, die unerlaubt hier hochklettern würde, sich oben wenigstens in ihrem Kranführersessel einen Moment ausruhen zu können. Aber sie würde das niemals sagen. Sie möchte ja niemanden auf dumme Gedanken bringen.

Unten angekommen packt sie ihre Schutzausrüstung in den Materialcontainer, hängt den Kranschlüssel ans Schlüsselbrett und fährt nach Hause. Isa Meyer verbringt den Abend mit ihren Kindern und sie schauen „Wer wird Millionär“. Das gemeinsame Raten genießen sie jeden Montag.

Am nächsten Morgen verschläft Isa, was bisher noch nie vorgekommen ist. Isa ist pünktlich. Immer. Sie hetzt zur Baustelle. So gerade noch rechtzeitig angekommen. Schutzausrüstung angezogen. Alles gecheckt. Nochmal alles checken. Immer doppelter Sicherheitscheck und sie klettert nach oben. Einhaken, lösen, einhaken, lösen, einhaken, lösen, einhaken, lösen. Nach der Hektik am Morgen freut sie sich auf die Ruhe oben in ihrer Kabine. Selbst stressige Situationen können sie hier oben nicht aus der Ruhe bringen. Endlich ist sie oben.

Sie hakt beide Schellen ein und tastet an ihrer Halterung am Gürtel nach ihrem Schlüsselbund, der unten im Materialcontainer am Schlüsselbrett hängt.