Dierk Seidel

Aus der Reihe: Geschichten von oben

Gefangen

Ich gehe joggen. Mache ich manchmal. Ist dann nicht cool, aber ich weiß, dass ich etwas geschafft habe. Zu wissen, dass man etwas geschafft hat, ist wichtig. Meistens schafft man sehr viel und merkt es dabei gar nicht. Aber beim Joggen nehme ich es immer recht gut wahr.

Ziehe Sportklamotten und Schuhe an und nehme meinen Haus- und Wohnungsschlüssel vom Schlüsselbund ab, damit ich nicht so viel zu schleppen habe. Jedes Gramm zählt. Nein, darum geht es natürlich nicht. Höchstens ein klein wenig. Ein Schlüsselbund kommt schon allein wegen des Geklappers nicht in die Tasche. Laufe los. Während des Laufens möchte ich öfter abbrechen, ab einer gewissen Zeit wird es sehr zäh und ich bin heilfroh, wenn ich am Ende fertig bin. Und fertig ist das richtige Wort. Ich bin fertig mit der Welt, aber auch erleichtert, dass ich es geschafft habe. Darauf ist Verlass.

Am nächsten Morgen das Standardprozedere. Aufstehen, Badroutine, etwas trinken, Tasche schnappen. Alles wie immer. Greife meinen Schlüsselbund, gehe ins Treppenhaus, ziehe die Tür zu und gehe runter. Vier Stockwerke. Beim Gang nach unten blicke ich auf die Uhr. Noch sechs Minuten. Das schaffe ich locker zum Zug. Unten angekommen, drücke ich die Klinke der Haustür herunter und ziehe an der Tür. Verschlossen.

Hektik breitet sich in mir aus. Sechs Minuten waren es eben. Der Zug wird nicht warten. Züge sind oft zu spät, aber wenn man selbst zu spät ist, warten sie nie. Grundsätzlich, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Krame in meiner Tasche nach dem Schlüsselbund und suche den passenden Schlüssel. Verdammt – das gestrige Laufen. Der Schlüssel liegt oben. Vier Stockwerke hoch. Was wenn mir nicht geöffnet wird, was wenn ich den Zug verpasse? Klingel ich bei den Nachbar:innen? Wer hat unten abgeschlossen? Warum? Komme oben an und drücke die Klingel. Immer wieder. Nun mach auf, denke ich. Ich klingele weiter. Es fühlt sich an wie Stunden. Ich bin gefangen im eigenen Treppenhaus, morgens um fünf vor sieben. Vor Nervosität wackele ich hin und her. Wieder diese Fragen: Was ist, wenn ich den Zug verpasse? Werde ich es mit dem nächsten schaffen? Ich könnte direkt in den Unterricht rennen. Könnte knapp werden. Die Kopien, die ich für die Stunde brauche, liegen kopiert im Lehrerzimmer in einem ganz anderen Gebäudeteil. Ich brauche den früheren Zug. Ich drücke nochmal auf die Klingel. Ganz fest. Eine Ewigkeit vergeht. Die Tür öffnet sich und zwei verschlafene Augen blicken mich an.

„Der Schlüssel. Nicht dabei. Gestern Laufen“, artikuliere ich mich mehr schlecht als recht. Meine Frau drückt mir den passenden Schlüssel in die Hand.

„Ich muss runter, der Zug, melde mich gleich nochmal. Danke!“

Renne so schnell ich kann nach unten, sehe Zeitungen auf dem Treppenabsatz. Die waren eben noch nicht hier. Teste die Tür. Offen. Fluche kurz und renne weiter zum Zug. Treppen zum Gleis hoch. Menschenmassen. Der Zug fährt mit zwei Minuten Verspätung ein. Steige ein, setze mich hin und atme tief ein. Der Tag kann beginnen.