Dierk Seidel

Aus der Reihe: Vom Schwitzen, Fallen und wieder Aufstehen

Part 5: Für Muff Potter bin ich einfach zu jung

An manchen Tagen geistern mir Konzerterinnerungen und Sätze durch den Kopf, über die ich grübeln muss.

Für Muff Potter bin ich einfach zu jung. Das dachte ich immer wieder, obwohl zu meinen Lieblingsbands Queen und The Doors zählen. Aber Widersprüche sind wichtig. Das muss man aushalten.

Mit Queen kam ich durch einen Schulfreund in der vierten oder fünften Klasse in Berührung. Im CD-Regal seiner Eltern fand sich die Greatest Hits, ich lieh sie mir aus und hörte sie, bis ich sie in- und auswendig kannte. Es war nicht nur die Musik. Es war das Gesamtpaket dieser CD, das ich studierte, und ich hatte keine Ahnung von der Band. Ich sah diese vier Typen, Roger Taylor und Freddie Mercury in Lederjacken, John Deacon in einer Art Fliegerjacke, Brian May in einem Nadelstreifenanzug, und malte mir aus, wer wohl welche Rolle in der Band spielte. Erst das Computerlexikon „Encarta 98“ wischte über meine Realität und erzeugte eine neue Wirklichkeit. Viele Jahre später und im Besitz aller Alben, dämmerte mir, dass ich die Band eigentlich länger kannte als bisher angenommen. Mit fünf Jahren sah ich Auszüge des Tribute Konzerts zum Gedenken an Mercury im Fernsehen. Ich lag auf dem Bauch auf dem beigen Flokati-Teppich im Wohnzimmer, hatte meinen Kopf auf meinen Händen abgestützt und starrte andächtig in die Röhre. Ich saugte das Konzert auf, vergaß es und fand es später wieder.

Die Band The Doors lernte ich in der siebten oder achten Klasse kennen. Ein Mitschüler, Punk und großer Die Ärzte Fan, sagte mir eines Tages, dass ich mal die Doors hören müsste. Ich hatte keine Ahnung, was die für Musik machten und so lieh er mir eine „Best Of“- CD aus. Nach der Schule verzog ich mich in mein Kinderzimmer, setzte mich auf den Korkboden und legte die CD in den tragbaren CD-Player. Ich erwartete Krach, ich erwartete, obwohl das Cover es vielleicht nicht direkt vermuten ließ, englischen Punkrock. Ich hatte keine Ahnung.

Regen prasselte, es donnerte, ein Schlagzeug tickerte, ein Klavier setzte ein, dann ein Bass und Jim Morrison begann, mit seiner sonoren Stimme zu singen. „Riders on the Storm“ war der erste Song der Doors, den ich bewusst wahrnahm. Ich war für eine Sekunde etwas perplex, dass es so ruhig war und nicht meinen Erwartungen entsprach. Gleichzeitig war ich gefesselt, begeistert und für immer Fan. Kurz ins Wanken geriet die Faszination, als meine Mutter reinkam, um mich zum Tee zu holen, und sagte: „Ach, The Doors, ja, die habe ich in meiner Jugend auch gehört.“

So etwas wollte ich als Teenager nicht hören, aber letztlich überwog die Faszination an allem, was mit den Doors zu tun hatte. Ein Jim Morrison Poster hängt immer noch in meinem ehemaligen Kinderzimmer an der Tür.

Aber für Muff Potter war ich zu jung. Vielleicht lag es daran, dass keiner meiner Freunde Muff Potter hörte, vielleicht sind Gründe aber auch nicht relevant, manches geht eben einfach an einem vorbei. Muff Potter kannte ich bis vor wenigen Jahren nur als Figur aus Tom Sawyers Abenteuern. Anfang 2019 sollten sie in Münster spielen. Ich wollte diese Band kennenlernen, von der ich doch mittlerweile viel Gutes gehört hatte. Häufig endete die Empfehlung mit solchen oder ähnlichen Sätzen:

„Muff Potter solltest du dir echt mal geben, das ist sicher was für dich, hätte nicht gedacht, dass du die nicht kennst. Merkwürdig.“

Ich versuchte viel zu spät, Karten zu bekommen, es war nichts zu machen. Klar, eines der ersten Konzerte seit 2009. Da wollten viele hin, die wissen, was gut ist. Im Frühjahr 2019 erstand ich in einem Plattenladen in Hamburg das Album „Colorado“, das mit Raritäten, B-Seiten und Coversongs vielleicht ein ungewöhnlicher Einstieg war, aber was soll ich sagen, „alles war schön und nichts tat weh.“ Zum Geburtstag der Band sollte es ein Konzert im Gleis 22 geben. Ein Club, der ganz in der Nähe von mir liegt, aber dem ich zu Unrecht immer zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Einmal spielte ich dort selbst Theater, ein paar Mal trat ich dort bei Poetry Slams auf, die UK Subs und TV Smith sah ich dort, aber das war es im Grunde genommen auch schon. Und dann kündigten Muff Potter ihr Geburtstagskonzert an. In einem Laden, wo nur ca. 300 Menschen Platz finden, und ich stellte mir folgende Fragen:

  1. Ist es überhaupt realistisch, Karten zu bekommen?
  2. Soll ich es probieren?
  3. Wäre es nicht unfair für Menschen, die da unbedingt hinwollen, die Band schon ewig kennen und dann wegen mir keine Karten bekommen?

Ich entschied mich für den Versuch für mich und zwei Freunde. Am Vorverkaufstag hatte ich dann noch ein paar andere Dinge im Kopf. Ich versuchte es erst einige Minuten nach dem Start und bekam problemlos die Karten. Das schlechte Gewissen im Hinblick auf Frage 3 löste sich in Luft auf.

Vielleicht wieder ein Widerspruch. Ich kann mich nicht an einzelne Lieder erinnern, nicht an Anmoderationen von Songs, und dennoch weiß ich, dass es zu den besten Konzerten meines Lebens zählt. Die Energie, die die Band ausstrahlte und die sich im Publikum widerspiegelte, war einfach stark. Die Songs, die alle anderen einwandfrei mitsingen konnten, sog ich auf und reiste mit ihnen in eine andere Zeit. Sie katapultierten mich in das Jugendzentrum meiner Heimatstadt, wo ich die ersten Punkkonzerte erlebte. Ich sprang wieder in die Gegenwart, ein Taumel der Gefühle zu schnellen Gitarren und krachendem Gesang. Fremde Menschen und Freunde, alles verschmolz. Wir tranken Bier, prosteten uns zu, pogten, schwitzten, fielen hin und halfen uns auf. Alle waren glücklich, alles war gut.