Dierk Seidel

Es wird Zeit, Paul Viertel

Ein Montagmorgen mitten in der schönsten Zeit des Jahres, im August, ist der Morgen an dem für Paul Viertel alles, an das er glaubte, aus den Angeln fiel. Es war nicht viel, an das er glaubte, aber umso größer sollte die Veränderung werden.

Paul Viertel stand wie jeden Morgen um 6.30 Uhr auf. Er zog sich eine Boxershorts an, denn Paul war ein Nacktschläfer, und wanderte noch etwas träge in sein helles Badezimmer. Er stellte die Badewanne an, drückte den Stöpsel rein und putzte sich im Anschluss die Zähne. Während das Wasser lief, schmierte er sich vier Brote, zwei für jetzt, zwei für die Arbeit, und setzte Teewasser auf. Kurze Zeit später goss er den Tee auf und frühstückte. Zweimal blickte er auf die Uhr. Nach Brot Nummer 1 und dann nach der Tasse Tee, die er im Anschluss trank. Er ging ins Bad, goss Badeschaum in die Wanne, ging zurück und aß die zweite Scheibe Brot, ehe er sich in sein Vollbad legte.

Um sieben Uhr und fünf Minuten stieg Paul Viertel aus der Badewanne, ging in sein Schlafzimmer, zog seine blaue Uniform an, schnürte seine festen schwarzen Schuhe zu, packte seine zwei Brote in seine schwarze Umhängetasche, füllte den Rest Tee in eine Thermoskanne und packte diese ebenfalls in seine Tasche, blickte noch einmal in den Spiegel im Flur seiner Wohnung, setzte sich seine Schiebermütze auf, ging zur Tür raus, schloss zweimal ab und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Für gewöhnlich traf sich Paul Viertel in seiner Stunde Mittagspause immer mit seiner ehemaligen Arbeitskollegin Martina Farör. Sie gingen erst gemeinsam in der nahegelegenen Großkantine der Bezirksregierung essen und dann schnell zu ihr, um wie sie es immer wieder oft betonte „ein Schäferstündchen“ abzuhalten, „nicht mehr, nicht weniger“, fügte sie an manchen Tagen noch hinzu. Sie redeten nie viel, beim Essen redet man nicht und das andere ist ja auch irgendwie Nachtisch, dachte Paul Viertel als er vor einiger Zeit kurz über die ganze Geschichte nachdachte. Um genau fünf vor Zwei sagte sie immer:

„Jetzt aber los!“

Und dann spurteten sie wieder zur Arbeit. Manchmal fühlten sich beide etwas schmutzig, aber das machte ihnen nichts weiter.

Doch heute war alles anders.

Es begann schon auf dem Weg zur Arbeit, als Paul Viertel feststellen musste, dass sein Bus, die Linie 14 Richtung Hermelengener Kreuz, Verspätung hatte. Grade mit dieser Linie war das in den letzten 15 Jahren noch nie passiert. Solche Veränderungen beunruhigten Paul Viertel immer sehr. Er trat von einem Fuß auf den anderen und blickte in den Himmel. Er stellte sich wahnsinnig bedrohlich große Gewitterwolken vor, denn die würden sehr gut zu so einer Busverspätung passen, dachte er in diesem Moment. Als der Bus dann endlich nach unglaublich langen drei Minuten kam, rannte er schnell rein, wartete gar nicht erst die Entschuldigung für die Verspätung von Busfahrer Rudi Zimmermann ab, sondern setzte sich direkt an seinen Lieblingsplatz über der Mittelachse.

Eine alte Frau setzte sich neben ihn, blickte ihn lange an, ehe sie zu ihm sagte:

„Das ist aber eine schöne Uniform, die sie da tragen, wissen sie ich hatte früher auch eine Uniform bei der Post. Da habe ich immer alles mitbekommen, ich musste nie Zeitung lesen, ich erfuhr alles auf der Straße. Das war sehr schön. Aber heute, heute liegt irgendwas in der Luft, irgendwas ist anders.“

Paul Viertel schaute sie an, lächelte und sagte:

„Genau, drei Minuten, sowas kann doch nicht sein.“

„Sie sagen es, junger Mann, mit diesen drei Minuten wird sich alles anders entwickeln, ich hab das im Gefühl.“

Danach grüßte sie, wünschte noch einen schönen Tag und verschwand durch die Mitteltür.

Paul Viertel schaute ihr hinterher, sie sah noch fit aus, war vielleicht so um die 80, vielleicht auch noch viel älter, jünger bestimmt nicht, ihn mit seinen Ende 40 junger Mann zu nennen, erfreute ihn. Vielleicht war er für ein paar Minuten verliebt, aber so sicher war er sich da auch nicht.

Um 9.45 Uhr wollte Paul Viertel wie immer seine Frühstückspause machen, da kam Herr Bernhard rein, sein Chef, dessen Vornamen niemand weiß und vereitelte ihm die Pause.

„Herr Viertel, der Sommer ist nicht mehr lang, wir werden dann wieder mehr Besucher bekommen, es ist wie jedes Jahr, die Schulkassen werden in Strömen zu uns kommen, sie wissen das im Prinzip, es ist jedes Jahr das Gleiche. Sie sind ja schon länger hier.“

„15 Jahre.“

„Ja, richtig, passen Sie auf, wir glauben Sie sind dem Ansturm der Besucher nicht mehr gewachsen, wir würden ihnen einen Frischen zur Verfügung stellen, Sie würden erstmal auf halbe Stundenzahl gehen, machen Sie mal Pause, machen sich mal nen schönen Nachmittag, spielen Sie Schach.“

„Herr…“, fing Paul Viertel an, aber Herr Bernhard fiel ihm ins Wort.

„Ab nächsten Montag ist er da, arbeiten Sie ihn ein. Bis dann erstmal.“

Und dann ging er und Paul Viertel sprach aus, was er eben schon sagen wollte.

„Herr Bernhard, ich brauche keinen freien Nachmittag für eine Pause, ich brauche nur meine 15 Minuten Frühstückspause, die sie gerade unterbrechen.“

Plötzlich kam Herr Bernhard wieder rein und motzte rum, so als hätte er alles gehört was Paul Viertel eben sagte:

„Herr Viertel, nun seien sie mal nicht so kindisch, wir hätten sie auch ganz rausschmeißen können, aber ich habe mich für sie eingesetzt, aber das war nicht einfach, das sag ich ihnen. Unverheiratet, kein Haus, keine Frau, keine Kinder. So einer wie sie braucht doch nichts, ist nicht auf diesen Job hier angewiesen. Aber ich war so freundlich. Also seien sie still, seien sie dankbar und nehmen sie sich ihre Pausen.“

Und dann stürmte er raus und war endgültig verschwunden.

Ohne groß nachzudenken, ging Paul Viertel zu seinem Spind, schloss ihn auf, nahm einen Bügel aus dem Spind, zog seine Uniformjacke aus, legte sie über einen Stuhl, zog sein blaues Hemd aus und hängte es über den Bügel, im Anschluss daran hängte er seine Jacke ebenfalls über den Bügel und hängte beides an die Spindtür. Danach zog er seine Schuhe aus, zog seine Hose aus, faltete sie ordentlich und legte sie in seinen sonst leeren Spind. Dann zog er seine Schuhe wieder an, legte als letztes seine Mütze mit dem Zeichen für Sicherheit auf die Hose, schnappte sich seine schwarze Umhängetasche und lief dann in Schuhen, gestreifter Boxershorts, Unterhemd und Umhängetasche durch den A-Flügel des Museums für Moderne Kunst Richtung Haupteingang.

„Und da sehen Sie eine neue Kunstaktion, höchstwahrscheinlich von Studenten der Fachhochschule für Gestaltung“, hörte Paul Viertel eine Museumsführerin zu einer Gruppe sagen, als er vorbeilief. Er grinste, was er schon lange nicht mehr getan hatte, und wusste eigentlich gar nicht, wo er hinsollte.

Am Eingang rief er seinem Kollegen Peter Wortwitzler zu:

„Wenn der Chef fragt, ich bin mal Pause machen.“

„Äh ja, alles klar, wie lange?“, fragte Peter Wortwitzler.

„Wenn der Wind das weiß, hat er es mir noch nicht erzählt“, reagierte Paul Viertel, „sag bitte meiner Frau und meinen Kindern, dass es mir gut geht“, sprach Paul Viertel weiter, ging die Treppe runter und verschwand hinter einer Ecke.

Peter Wortwitzler war verwirrt, er wusste gar nicht, dass Paul Viertel Frau und Kind hat und so dachte Peter Wortwitzler, dass er sich mehr für Menschen interessieren müsse, ging zur Kassenfrau Anna Rollte und fragte, ob sie nicht mal einen Kaffee trinken könnten, er würde sie gerne kennenlernen. Anna rollte kurz mit den Augen und war erstaunt, sie dachte, er würde nie fragen, und bejahte die Frage.