Dierk Seidel

Einmal noch schlafen

„Die Engel kommen von hoch oben ganz ganz leise geflogen“, flüsterte Sarah, während sie und ihr kleiner Bruder aus dem Fenster in den Schnee starrten. Es schneite nun schon seit drei Tagen und ihr kleiner Bruder machte sich doch ein bisschen Sorgen, ob Engel oder Weihnachtsmann den Weg durch den Schnee schaffen würden.

„Aber es kommen doch gar keine Engel, morgen kommt doch der Weihnachtsmann“, sagte er.

„Nein, nicht nur. Der Weihnachtsmann kommt natürlich auch, aber er kann ja nicht die ganze Arbeit alleine machen. Du wirst sehen, morgen Abend sind unsere Geschenke da und du kannst nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es die Engel oder der Weihnachtsmann waren. Aber jetzt lass uns schlafen, sonst kommen sie vielleicht gar nicht.“

Daraufhin gingen die beiden in ihre Betten und Sarah deckte ihren kleinen Bruder noch einmal schön warm zu, sodass er nicht frieren würde, wenn der Wind wieder durch die alten Fenster pfiff.

In der Nacht polterte es gewaltig. Nein, vielmehr krachte irgendetwas auf das Dach des kleinen freistehenden Mehrfamilienhauses.

Es gab nur das Erdgeschoss, eine weitere Etage und einen Spitzboden. Unten wohnte der Hausmeister, Herr Rümpel, mit seiner Frau, Frau Rümpel. Sie stritten sich oft und laut, aber wenn man sie sah, waren sie ein Herz und eine Seele. Herr Rümpel freute sich auf Weihnachten. Das war immer die Zeit, in der er seine Eisenbahn vom Spitzboden holte, sie aufbaute, eine Woche fahren ließ und dann, kurz vor dem Jahreswechsel, die Bahn zufrieden wieder nach oben brachte. Seine Frau konnte dem nichts abgewinnen, ließ ihn aber machen. Sie nutzte die Zeit, um Briefe zu schreiben.

Daneben wohnte Anna Mulldenbinder, eine Anwältin. Sie hatte nur vorübergehend etwas gesucht, dann kaufte sie aber die Wohnung, weil sie in Sorge war, dass das Haus irgendwann einem Bürokomplex weichen müsste. Das Haus stand etwas außerhalb der Stadtgrenze, doch die Stadt rückte immer näher ran. Darüber hinaus wusste keiner so genau, wie dieses Mehrfamilienhaus hier überhaupt hingekommen war. Ungefähr dreihundert Meter weiter kamen die ersten Bauernhäuser. Um das kleine Mehrfamilienhaus gab es nur weite Felder und eine kleine Zufahrtsstraße, die zur Bundesstraße führte.

Im ersten Stock wohnte links die WG mit Juri, Janne, Jana und Jette. Sie studierten alle unterschiedliche Dinge und fuhren immer mit ihren Hollandrädern in die Stadt. Jette hatte einen großen Fahrradanhänger und brachte immer mal wieder Dinge mit, bei denen niemand so genau wusste, was sie eigentlich waren.

Rechts daneben wohnte Sarah mit ihrem Bruder Nils und ihren beiden Mamas Christina und Katrin.

Und dann polterte es gewaltig. Nein, vielmehr krachte etwas auf das Dach des kleinen freistehenden Mehrfamilienhauses. Aber niemand im Haus bekam so richtig was davon mit. Juri, Jette und Janne schauten im großen Hörsaal ihrer Uni die Feuerzangenbowle und versackten anschließend in einer Kneipe. Jana hatte Kopfhörer auf und spielte auf ihrem E-Piano Weihnachtslieder. Sie freute sich schon sehr auf das gemeinsame Weihnachtssingen mit der WG am nächsten Tag.

Sarah und Nils zuckten kurz zusammen, waren aber schon in der tiefsten Schlafphase. Herr Rümpel und Frau Rümpel nahmen zum Schlafen immer ihre Hörgeräte raus und Anna Mulldenbinder war so sehr in die Arbeit vertieft – sie wollte pünktlich vor dem Fest und bevor sie zu ihrer Familie fuhr, eine Sache zu Ende bringen – dass sie gar nicht mitbekam, was um sie herum geschah.

Kurz nach dem Krach auf dem Dach begann ein Schneesturm und die Schneemenge erhöhte sich schnell so stark, dass Juri, Jette und Janne in der Stadt eingeschneit wurden. Sie machten das Beste daraus.

Herr Rümpel öffnete morgens kurz die Haustür, starrte auf den Schneeberg vor dem Haus und schüttelte den Kopf. Dann ging er wieder hinein zu seiner Frau.

„Schatz, den Schneeberg krieg ich mit meiner Schippe nicht weg. Wir hoffen auf ein Wunder oder dass die Stadt mit ihren Fahrzeugen auch zu uns kommt und alles in Ordnung bringt. Wir haben genug Vorräte im Keller. Das reicht für alle hier im Haus. Ich gehe jetzt hoch, meine Eisenbahn holen.“

„Ach so, na dann“, sagte Frau Rümpel, nahm Briefpapier aus der Kommode neben dem Telefon, setzte sich an ihren Schreibtisch und fing an Briefe zu schreiben. Sie schickte die Briefe nie ab, deshalb störte sie der Schnee auch nicht weiter.

Sarah und Nils rodelten nach dem Frühstück den Schneeberg hinunter und Anna Mulldenbinder, Jana, Christina und Katrin tranken am Fuße des Bergs Glühwein und aßen viele Kekse. Gegen Mittag verabschiedeten sich alle und gingen zurück ins Haus. Noch ein wenig später, als Frau Rümpel gerade den feierlichen Weihnachtsgottesdienst im Fernsehen sehen wollte, fiel ihr auf, dass Herr Rümpel noch gar nicht zurückgekommen war. Sie machte sich Sorgen. In seinem Alter, nicht dass er gestürzt ist, dachte sie. Sie klingelte nebenan bei Frau Mulldenbinder, aber die machte nicht auf. Dann muss ich wohl hoch, dachte Frau Rümpel, stieg in den ersten Stock und klingelte bei der WG. Nach ein paar Minuten machte Frau Mulldenbinder die Tür auf. Hinter ihr stand Jana mit einem Raclettepfännchen in der einen und einem Glas Sekt in der anderen Hand.

„Kommen Sie rein, Frau Rümpel, trinken Sie ein Glas Sekt mit uns“, sagte Frau Mulldenbinder.

Na, warum auch nicht, dachte sie und ging rein.

Katrin, Christina, Nils und Sarah hatten schon gegessen und spielten gerade das neue Würfelspiel „Das Dings“, als Sarah ein Poltern hörte.

„Was war das denn?“, fragte sie.

„Ich habe nichts gehört“, sagte Nils.

Und Katrin sagte: „Du hörst wohl Weihnachtsgeister?“

„Ach, lasst mich doch in Ruhe, wenn ihr mir nicht glaubt.“

„Da ist bestimmt nur etwas Schnee vom Dach gepoltert“, besänftigte Christina.

Sie schnappte sich einen Keks und würfelte. Eine neue Runde begann.

Nach einem Glas Sekt mit Jana und Anna Mulldenbinder fiel Frau Rümpel auch wieder ein, was sie in der WG wollte. Sie erzählte von ihrer Sorge um ihren Mann und sie beschlossen, gemeinsam nachzuschauen.

„Die Leiter ist ja gar nicht runtergeklappt. Das ist ja merkwürdig“, sagte Anna Mulldenbinder.

„Das war vorhin schon so“, sagte Jana, „und überhaupt ist mir heute gar nicht aufgefallen, dass die Luke überhaupt mal geöffnet war.“

Anna Mulldenbinder nahm den Holzstiel mit dem Haken an der Spitze, hakte ihn in die Öse an der Luke ein, zog die Luke nach unten und die Leiter zum Dachboden hinterher. Dann stiegen die drei auf den Dachboden. Jana zuerst, dann folgte, etwas langsamer, Frau Rümpel und zuletzt Anna Mulldenbinder.

„Da war doch wieder was auf dem Dach“, schrie Sarah, „diesmal habt ihr es doch auch gehört, oder?“

„Ja, da war wirklich was“, bestätigte Christina und Katrin pflichtete bei. Nur Nils ignorierte die drei. Er sang gerade Weihnachtslieder und wollte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen.

„Lass uns mal auf dem Dachboden nachschauen“, sagte Christina und da waren sofort alle, sogar Nils, Feuer und Flamme. Sie rüsteten sich mit Dingen aus.

„Nur für alle Fälle“, flüsterte Sarah. Sie hatte einen Tennisschläger in der Hand. Nils seinen Teddy Peter, Christina eine Gitarre und Katrin einen Besen.

„Guck mal, der Dachboden ist auf“; sagte Nils, „also ist da doch irgendwas.“

Neugierig, aber etwas nervös kletterten sie hoch. Erst Katrin, dann Nils, dann Sarah und zuletzt Christina. Oben angekommen, blieben sie gebannt stehen.

„Da, da, ist ja der Weihnachtsmann“; stotterte Nils. Und tatsächlich:

Auf einem Sessel im hinteren Bereich des Dachbodens saß ein Weihnachtsmann und trank entspannt ein Glas Whisky. Drumherum, auf Campingstühlen, saßen Frau Rümpel, Anna Mulldenbinder, Jana und Herr Rümpel. Er hatte seine Eisenbahn fast auf dem gesamten Dachboden aufgebaut und ließ sie nun begeistert fahren. Blickte man zum Spitzdach hoch, sah man etwas abseits ein klaffendes Loch durch das immer mal wieder Schnee reinfiel, aber kalt war es hier oben nicht. Unter dem Loch stand ein leicht demolierter Schlitten und vier Engel versuchten ihn wieder zu reparieren. Alle, selbst die arbeitenden Engel, waren supergut drauf und bemerkten erstmal gar nicht, dass neue Besucher auf dem Dachboden waren.

„Da, da, guck mal, Mamas, da ist der Weihnachtsmann und Engel“, freute sich Nils lautstark.

Alle guckten zu den Neuankömmlingen und der Weihnachtsmann ergriff das Wort: „Hohoho, keine Sorge, wir sind morgen wieder weg. Im Schneesturm mussten wir zwischenlanden und da hier weit und breit nur dieses Haus war, blieb uns nur diese Möglichkeit. Aber wirklich, morgen sind wir wieder weg. Und das mit den Geschenken krieg ich auch irgendwie hin. Und nun setzt euch dazu. Wir spielen schon den ganzen Tag mit der Eisenbahn und trinken die Geschenke für die Erwachsenen auf. Läuft gut hier. Das ist übrigens Herr Rümpel. Die anderen Namen kann ich mir noch nicht merken, sie sind noch nicht lange hier.“

„Wir kennen Herrn Rümpel, wir wohnen doch alle gemeinsam in diesem Haus zusammen“, sagte Katrin.“

Ein Engel horchte auf.

„Ihr wohnt alle zusammen in diesem Haus, aber ihr feiert nicht alle zusammen Weihnachten?“

Der Engel blickte die anderen Engel an.

„Habt ihr das mitbekommen?“

„Ja, verrückt“, sagte einer, der gerade aus dem Schlitten schaute, „da sind wir ja genau richtig hier.“

Im Nu dekorierten die Engel den Dachboden weihnachtlich, Jana und Anna Mulldenbinder holten das Raclette und Zutaten hoch und Nils und Sarah spielten mit der Eisenbahn. Der Weihnachtsmann machte ein Nickerchen und alle anderen unterhielten sich und zelebrierten gemeinsam den Abend.

„Heiligabend“, schrieb Frau Rümpel am nächsten Tag in einen ihrer Briefe, „Heiligabend war zauberhaft.“