Dierk Seidel
Einfach nur Rasenmähen
Er betrachtete die Anzeigetafel am Bahnhof. Der Weg in seine Heimat sollte mit 20 Minuten Verspätung beginnen. Immerhin hierbei ist die Bahn zuverlässig, dachte er und verwarf schnell den Gedanken. Dieser Witz wurde sicherlich schon zigtausendmal erzählt. Na, solange ihn niemand aufschreibt, dachte er. Die Bahn fuhr ein, er suchte sich einen Platz am Fenster zur Westseite der Bahnstrecke. Einen Teil der Strecke fuhr er regelmäßig mit dem Nahverkehr, jetzt im Fernverkehrszug kam ihm der Blick nach draußen befremdlich vor. Vielleicht lag es daran, dass der Zug etwas höher lag. Er schlief ein und wachte zehn Minuten vor der Ankunft wieder auf. Draußen sah er den Wanderweg, den er und seine Freunde früher mit den Fahrrädern von der Diskothek nach Hause gefahren waren. Früher gab es in der Regel drei Wege, die 10 Kilometer in die Dorfdiskothek Limit zu kommen. Jemand brachte sie (ganz selten), die Nachteule, der Nachtbus fuhr sie (schon häufiger) oder sie fuhren mit dem Fahrrad (die Regel). Er schloss die Augen. Bilder von einer Fahrt tauchten auf.
Eines Nachts war er mit seinen Freunden und per Fahrrad auf dem Rückweg. Am Ostfrieslandwanderweg schrie er plötzlich: „Ahhhh, ich bin nachtblind.“ Dann schloss er die Augen.
„Was heißt das?“, fragte sein Freund Ole.
„Na, dass ich nachts nichts sehe. Und dass ihr mich leiten müsst.“
Er fuhr, damals geschätzt, ungefähr zweihundert Meter mit geschlossenen Augen. In der Gegenwart öffnete er seine Augen.
»Das waren nicht mehr als zehn Meter, aber es ging gut«, sagte er vielleicht etwas zu laut.
»Haben Sie was gesagt?«, fragte eine Frau, die schon zum Aussteigen an der Tür bereitstand.
»Nein, nur zu mir selbst.«
»Na, wenn sie meinen.«
Er blickte zur anderen Seite des Zuges und sah die Mülldeponie, jetzt nur noch über die Brücke, dann sind wir da, dachte er. Es fühlte sich alles vertraut an.
Er lief die zwei Kilometer vom Bahnhof zu dem Haus, in dem er lange Zeit und mittlerweile nicht mehr den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Im Park, den er durchqueren musste, schien es ihm, als kenne er jedes Schlagloch und jeden Baum.
Das Haus stand da wie eine Festung in der Straße, ringsherum neue Bewohner und Bewohnerinnen, alles verändert sich, aber dieses Haus, das bleibt stabil. Wie lang noch, fragte er sich manchmal. Heute war er allein hier, in zwei Wochen, wenn er wieder kommen will, ist seine Mutter wieder da. Aus dem Urlaub zurück. Heute war er zum Rasenmähen hier.
Der Schlüssel drehte sich leicht und er ging hinein. Sein Gang führte ihn zum Kühlschrank, einfach nur ein Blick, ganz ohne Wertung, dann legte er los. Kabel anschließen, Rasenmäher raus und starten.
45 Minuten später saß er auf einem Gartenstuhl in der Sonne vor dem Haus. Es gab in diesem Haus viele Orte, an denen er gerne saß, aber den Platz vor dem Haus mochte er am liebsten. Er trank ein alkoholfreies Bier und aß eine Dose Erdnüsse. Kochen wollte er heute nicht.
Im Anschluss an Bier und Erdnüsse räumte er alles in den Schuppen, pumpte die Fahrräder auf, duschte und ging durch jeden Raum des Hauses, er fühlte in jeden Raum. Er hatte kein Fenster geöffnet und dennoch überprüfte er ganz genau, ob alle verschlossen waren, bevor er ging. Und dann ging er. Erst den Weg durch den Park, dann die Bremer Straße entlang Richtung Bahnhof. Ein Blick auf die Uhr. Wenn er sich jetzt beeilte, würde er vielleicht den IC noch bekommen. Im Einsteigen buchte er übers Handy sein Ticket und ließ sich auf einen freien Fensterplatz fallen. Gegenüber von ihm saß ein Ehepaar im Rentenalter.
„Ob die wohl eine Durchsage machen, wenn Deutschland ein Tor schießt?“, fragte der Mann.
„Ach, das glaube ich nicht“, erwiderte die Frau. Er, der so langsam wieder zu Atem gekommen war, glaubte es auch nicht. Sein Smartphone vibrierte, der Liveticker zeigte ein Tor für Deutschland an. Keine Durchsage, er fühlte sich bestätigt.
„Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen kurz mitteilen, dass Deutschland ein Tor geschossen hat“, sagte einen Moment später die Zugbegleiterin durch die Lautsprecher. Der alte Mann strahlte seine Frau an.
„Siehst du, Erna, die denken an uns.“
„Ach, Hans-Dieter, das ist doch nicht so wichtig. Denk lieber an unseren schönen Urlaub auf Norderney.“
„Ja, das war schön, wirklich schön“, und blickte zu seinem Gegenüber, „waren Sie auch im Urlaub? Sie haben ja gar kein Gepäck, junger Mann.“
„Nein, kein Urlaub.“
„Ach, und was haben Sie hier im Norden gemacht?“
„Rasenmähen, einfach nur Rasenmähen. Und Erdnüsse, Erdnüsse habe ich auch gegessen.“