Marieke Erlenstedt

Plädoyer für mehr Geduld mit der Generation Y

Marieke Erlenstedt Essay: Ein Plädoyer für mehr Geduld mit der Generation-YFreitagmittag halb 12 in Deutschland: Die Generation Y steigt in den Zug. Heimaturlaub. Wer sich unversehens im Dschungel aus Reisetaschen, Trekkingrucksäcken und Laptoptaschen auf den Gleisen der großen Universitätsstädte wiederfindet und beginnt, den dort beheimateten Ureinwohner zu beobachten, dem schießen unweigerlich Schlagzeilen durch den Kopf, die über die faule akademische Jugend lamentieren. Generation Y: Was empört euch?, Generation Y: Risikofrei, Spaß dabei? oder Cafe statt Büro – von der lokalen Tageszeitung bis hin zum intellektuellen Wochenblatt, das nostalgie-getränkte Bedauern über das angeblich mangelnde Engagement der aktuellen Studentengeneration ist ein beliebter Seitenfüller geworden.
Hiermit möchte ich die empörten Bürostuhlwärmer, die hinter diesen pauschalen „Früher war alles besser“-Beschwerden stecken, ganz herzlich einladen, einmal mit besagter Generation Y in den Zug zu steigen. Wer Zweifel daran hegt, dass dieser Nachwuchs einmal etwas bewegen kann, das vielleicht keinem Mauerfall gleichkommt, aber dennoch die Strahlkraft besitzt, die viele aktuell vermissen, dem könnte in einem der Waggons voller pendelnder Laptop-Studis  ein akuter Anfall von Zukunftseuphemismus befallen.
Ein Beispiel: Letzte Woche teilten sich im Zug von Münster nach Düsseldorf ein offenkundiger Akademiker älteren Semesters – Hemd, Jack-Wolfskin-Jacke und Aktentasche – und ein hipper Mittzwanziger samt Macbook Pro eine der schmutzig-blau bezogenen Sitzbänke. Nach etwa zehn Minuten, in denen der Jungspund schmachtende Blicke auf die Zeitung seines Gegenübers warf, reichte ihm dieser lächelnd die Feuilletonseiten seiner intellektuellen Wochenzeitung, und nach weiteren zehn Minuten diskutieren die beiden angeregt über das aktuelle politische Tagesgeschehen.
Wer jetzt entgegnet, dabei handle es sich um einen begrüßenswerten, doch außergewöhnlichen Einzelfall, den straft der gerade mal achtzehnjährige Erstsemester Lügen, der mir während ich dies schreibe gegenübersitzt, völlig vertieft in Hermann Hesses „Demian“. Oder der Masterstudent zwei Reihen weiter, der den Blick nicht von seiner zerlesenen Max Frisch Ausgabe wenden kann.
Mag sein, dass wir nicht so laut sind, nicht so radikal und emotional wie Generationen vor unserer, die auf der Straße mit viel Krawall für ihre Visionen eintraten. Doch das heißt mitnichten, dass in uns nicht auch einige ebensolche schlummern. Visionen, die vielleicht einmal die Welt verändern können. Visionen, die im RE2 nach Düsseldorf entstanden.
Und die Schuld dafür, dass dieses Potential immer noch im Tiefschlaf liegt, wie einige sagen würden, liegt mit Sicherheit nicht nur an uns. Seit den Bologna-Reformen beginnen junge Menschen ihr Studium, nach dem sie mit der Studienfachwahl ihre erste große, folgenschwere Entscheidung treffen mussten, und machen sich schon während des ersten Kennlernspiels der Orientierungswoche Gedanken darüber, wo sie wohl ihr erstes Praktikum absolvieren sollten. Wo das Auslandssemester verbringen? Französisch lernen oder doch lieber den Chinesisch-Kurs belegen? Und was heißt das alles für die Regelstudienzeit?
Wer zwischen dem dreckigen Geschirr und der schmutzigen Wäsche der ersten eigenen Wohnung ständig von diesen drängenden Fragen verfolgt wird, wissend, dass er in drei Jahren schon die nächste lebensverändernde Entscheidung, die nächste Bewährungsprobe meistern muss, der hat keine Zeit zu demonstrieren. Wer nachts nicht schlafen kann, weil ihn Albträume von arbeitslosen Geisteswissenschaftlern und einem Marathon von befristeten Arbeitsverträgen quälen, der kann sein Potential, die Welt zu verändern, noch nicht aufwecken. Der muss all seine Energie, all seinen Schweiß in Essays, Sprachkurse und Prüfungsphasen stecken, die manchmal beinah asketische Auswüchse erfordern.
Vorerst.

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