Dierk Seidel
Vorwort
2022 entstand nach einem Besuch am Strand von Sauðárkrókur im Norden Islands die Geschichte „Edda und das Nichts“. Die Geschichte ist hier nachzulesen.
https://www.kulturkater.de/edda-und-das-nichts/
Oder aber, wenn ihr mich unterstützen wollt und eigentlich gerne auch Geschichten richtig in den Händen halten wollt, dann könnt ihr die Geschichte auch in meinem Buch „Perspektbriefwechsel“ nachlesen.
https://buchshop.bod.de/perspektbriefwechsel-dierk-seidel-9783819244582
Nachdem ich nun etwas zufällig nach drei Jahren wieder an den Strand kam, war mir sofort klar, dass es mit Edda weitergehen muss.

Edda denkt
Edda blickte aufs Meer. Sie saß an den Dünen am schwarzen Strand von Sauðárkrókur, ihre Knie hatte sie zu sich herangezogen und umklammerte diese nun mit ihren Armen. Ein kalter Wind zog über den Strand, aber der machte ihr nichts aus. Edda hatte sich an den Wind gewöhnt, ebenso an Regen, Wellen und den Geruch von Fisch. An all das gewöhnt man sich, wenn man hier im Norden von Island aufwächst.
Die Sommerferien bedeuteten Ruhe für sie. Ihr Vater war mit den Touristen auf Wal-Suche, ihre Mutter war in der Hauptstadt. Schon länger.
Zweimal die Woche verbrachte sie Zeit in einem nahegelegenen Reiterhof, sie half dort mit und lernte im Gegenzug Deutsch. Die Zeit mit den Pferden genoss sie, doch am Strand bekam sie wirkliche Ruhe. Mindestens zweimal am Tag schwang Edda sich auf ihr Rad und radelte zum Strand, sie konnte dort stundenlang sitzen, nachdenken und das Leben beobachten. Abends sammelte sie das Nichts ein und archivierte es in ihren Gedanken.
Edda blickte aufs Meer. Dann bewegte sich ihr Blick nach Westen zum Zugang zum Strand mit dem angrenzenden Parkplatz. Ein Paar kam an den Strand, der Mann hielt ein Buch in der rechten Hand und es schien so, als suchten beide einen speziellen Ort am Strand, sie suchten immerzu den Horizont ab und zeigten mal hierhin und mal dahin. Abrupt blieb der Mann stehen und sagte immer wieder laut:
„Hier, hier, hier, das muss ungefähr der Punkt sein.“
Er drehte sich mit dem Rücken zum Wasser, hielt das Buch hoch und die Frau machte mehrere Fotos. Was genau auf dem Buch zu sehen war, konnte Edda nicht erkennen, doch der Mann kam ihr bekannt vor. Edda starrte ihn an und überlegte, woher sie ihn kennen könnte, doch ihr fiel nichts ein. Die Frau packte das Smartphone in ihre Gürteltasche.
„Fertig, jetzt können wir picknicken.“
„Ja, fertig“, erwiderte der Mann, „nur eine Sache fehlt.“
„Was denn?“
„Ach, nichts.“
In dem Moment trafen sich Eddas und sein Blick und sein, zuvor angespanntes, Gesicht entspannte sich und er strahlte. Edda lächelte still zurück. Wer ist das, fragte sie sich. Es könnte sein, dass es ein Lehrer an ihrer Schule ist, der noch nicht lange da ist, aber da müsste sie nun sechs Wochen warten, bis sie es erfährt. Edda hatte viel Zeit zum Nachdenken, doch diese Zeit wollte sie für wichtige Dinge verwenden, sie wollte Geschichten erfinden, wo die erste Welle herkam, welche Abenteuer das Stück Holz, das zwei Meter entfernt von ihr lag, schon erlebt hatte und was es heißt, im Nichts zu sein. Aber Edda wollte nicht sechs Wochen darüber grübeln, ob es ihr Lehrer war, oder eben nicht, solche Überlegungen können andere anstellen. Sie machte so etwas nicht. Sie stand auf, streifte etwas Sand von ihrer Hose und lief auf das Paar zu.
„Wir kennen uns, woher kennen wir uns?“, fragte sie auf Isländisch.
Der Mann zuckte mit den Schultern, die Frau sagte etwas zu ihm in fremder Sprache. Edda erkannte es sofort und wiederholte ihre Frage auf Deutsch.
„Wir kennen uns, woher kennen wir uns?“
„Du bist Edda, du suchst das Nichts, richtig?“
Edda wich einen Schritt zurück.
„Wer sind Sie? Und warum wissen Sie sowas über mich?“
Der Mann hielt ihr das Buch hin. Auf dem Cover war der Ausblick vom Strand aufs Meer.
„Seite 29, Edda und das Nichts“, sagte der Mann und Edda griff das Buch und blätterte, „ich habe es im Bókakaffið in Sellfoss gekauft und da wir hier in die Gegend kamen, fand ich es spannend mal hier vorbeizuschauen. Ich habe es durch. Du kannst es haben, wenn du willst.“
Edda starrte auf die Seiten. Las immer wieder ihren Namen, die Beschreibung über sie, es musste sie sein, sie dachte an den Literaturunterricht, allwissender Erzähler wurde sowas genannt, wenn ein Erzähler alles weiß, aber woher weiß ein allwissender Erzähler eigentlich alles? Eddas Gedanken sprangen.
„Nur nochmal, um das klarzustellen, Sie sind kein Lehrer an einer Schule hier im Ort?“
„Nein, ganz sicher nicht, wir kommen aus Deutschland und mit Schule haben wir auch nichts am Hut.“
„Am Hut?“, fragte Edda.
„Nichts mitzutun, so eine Redewendung.“
„Verstehe.“
Edda hielt dem Mann das Buch hin.
„Möchtest du es nicht behalten?“
„Nein, ich brauche meine Gedanken nicht zweimal.“
Sie drehte sich um und ging zu ihrem Fahrrad, das noch an den Dünen neben ihrem Platz lehnte. Sie hob es auf, schob es an den Eingang des Strands. Sie blickte nicht zurück.
Heute Abend wollte sie einen Brief schreiben. Dann schwang sie sich auf ihr Fahrrad und fuhr los. Sie blickte nur noch nach vorne.
