Dierk Seidel

Durch die Stadt gehen, in der Hoffnung, dass man jemanden trifft, den man kennt

Ohne weiteres Ziel schwang ich mich auf mein Rad, schloss es am Beginn der Fußgängerzone an und ging los. Mindestens einmal durch und dann wieder zurück.

Manchmal war mein bester Kumpel dabei. Wir waren verabredet oder trafen uns zufällig, weil er gerade durch die Stadt ging, in der Hoffnung, jemanden zu treffen, den er kannte.

Meistens war er auch die einzige Person, die ich traf. Es waren zwar andere Menschen in der Stadt und ich will von ihm und mir behaupten, dass wir schon die ein oder andere Person kannten, doch vielleicht hatten sie alle besseres zu tun, als durch die Stadt zu laufen, in dieser Kleinstadt an der Ems. Ich saugte die Menschen auf, blätterte in dem einen oder anderen Buch in der Auslage einer Buchhandlung, die neben Büchern auch ganz viel Krimskrams anbot. Manchmal quatschte ich mit Punks, die neben einer Eisdiele Musik machten. Ab und zu dachte ich, ich müsste Blicken ausweichen, weil ich Schlaghose und lange Haare trug, und wich ihnen aus. Ob die Blicke mich meinten, oder einfach so, ganz verwegen, zu mir schauten, wer weiß das schon.

Wenn ich Zeit habe, habe ich auch Zeit, um zu denken. Das ist nicht immer hilfreich. Wenn ich zu wenig Zeit und viel zu tun habe, macht es das Denken aber auch nicht leichter und ich verliere mich im Klein-Klein. Wenn ich damals durch die Stadt lief und nachdachte, verlor ich mich in Träumereien, in Gedanken an meine Band oder darin, dass ich gut Gitarre spielen können wollte, aber immer hoffte, dass es ohne Üben ging. Manchmal verlor ich mich aber auch in den Leben der Menschen, die ich sah und es gab die Tage, an denen ich nur darüber nachdachte, wen ich doch mal wieder gerne treffen wollte. Und dann traf ich meinen besten Kumpel und wir dachten und lachten gemeinsam. Wir wichen von der Route ab und setzten uns an den Hafen. Eines Tages sahen wir eine ältere Frau, grau gekleidet, die sich an den Rand des Holzstegs stellte, vom Wasser abgewendet, in den Himmel schaute, ihre Hände aufeinanderlegte, sie in die Luft streckte, mehrere Minuten etwas vor sich hinmurmelte und sich dann mehrfach verbeugte. Mindestens dreimal wiederholte sie die ganze Prozedur. Es war ein Schauspiel, das uns noch länger begleitete.


Vor ein paar Jahren hatte ich mir eine Art Challenge auferlegt. Jeden Tag mindesten eine Stunde Spazierengehen. Ich hatte nicht das Ziel, Menschen zu treffen, Menschen traf ich danach oder davor, es ging lediglich um Bewegung und ein wenig auch darum, den Kopf freizubekommen.

Als Covid-19 2020 kam, war alles im Stillstand, man traf sich nicht davor, nicht danach, man traf sich zum Spazierengehen und freute sich, wenn man unterwegs die ein oder andere Person traf, die man kannte.

Und heute? Covid-19 ist immer noch da, aber die Uhr läuft wieder. Spazierengehen, weil man noch nicht draußen war. Schlechtes Gewissen bekommen, weil man spazieren war und die Zeit nicht für andere wirklich wahnsinnig wichtige Dinge genutzt hat. Die Zeit läuft. Ich selbst bleibe stehen. Aber wenn ich gehe, gehen tausend Dinge durch den Kopf, das ist noch zu tun, das ist noch nicht ganz durchdacht. Und wenn die tausend Fragen in meinem Kopf keine Antwort bekommen, dreht sich die Gedankenspirale weiter und wie komme ich da wieder raus?

Ich gehe in die Stadt, in der Hoffnung, dass ich jemanden treffe, den ich kenne.