Dierk Seidel
Die Wurzelbehandlung
Ich sitze an meinem Laptop und betrachte die weiße Wand vor mir. Keine Teetasse, kein Kaltgetränk, nur die weiße Wand. Aus meinen Lautsprechern schallt Thees Uhlmann. Neulich erzählte ich im Rahmen einer Schreibgruppe, die an diesem Abend aus mir und einer weiteren Schreiberin bestand, dass ich mal Thees Uhlmann einen Brief geschrieben hatte. Sie wusste nicht, wer Thees Uhlmann ist. Sie las mir einen Text vor, in dem das Wort Rage Cage vorkam und ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete. Eine Bier-Pong-Spielvariante. Der Renner auf Studipartys. Ich bin alt. In Flensburg vor 14 Jahren im Studium gab es keine Bierpongtische. Es gab einmal auf einer Party Spiegel auf den Tischen, als Leute aus Hamburg kamen. Die wenigsten hatten damals Smartphones. Ich bin alt. Alt im Vergleich, aber was heißt das schon.
Ich sitze hier an meinem Tisch und frage mich, ob die Wurzelbehandlung nächste Woche wirklich nötig ist, und ob Thees Uhlmann meinen Brief je erhalten hat. Wenn ich in alten Ordnern krame, nach Texten suche, den Anfang meines Schreibens versuche an den Wurzeln zu fassen, entdecke ich viel Schrott. Mit 15 habe ich gereimt. Mit 16 habe ich geweint, mit 17 war die erste richtig große Liebe vorbei und dann fingen irgendwann die Kurzgeschichten an. Ich möchte nicht, dass jemand die alten Texte findet, aber ich möchte sie auch nicht löschen.
Der Zahn stochert in meinen Gedanken, die Wurzel des Übels war in der Schule die Mathematik. Stochastik, nur stocher nicht zu hastig, da geht schnell mal was kaputt. Vor meinem Fenster läuft eine Katze vorbei, sie grüßt kurz und sagt, sie müsse weiter. Ich bin irritiert, hier im vierten Stock passiert das nicht so oft.
Ich sitze hier am Tisch, ich stehe kurz auf und wende die Platte auf ihrem Teller. Die Nadel setzt auf. Ich studiere das Line Up eines Festivals, stelle fest, dass dort keine Band mit K auftritt. Warum nicht Kettcar? Die sind doch gut.
In meinen Gedanken schwimmt zeitweise viel. Können Fliegen schwimmen, wenn sie ganz kleine Schwimmflügel tragen, oder geht es dann nicht, weil sie dann zu viele Flügel haben? Ich denke über Dinge nach, die mal anders waren und umschiffe doch die großen Themen. Ich blicke in den blauen Himmel, der hinter meiner weißen Wand durchscheint und blicke von Vergangenheit zur Gegenwart. Bin im Heute, teste aus, wie weit ich gehen kann, teste aus, wie sehr mein Handgelenk beim Schreiben einengt, und versuche mich im Testen nicht zu verlieren.
Ich gehe zum Plattenregal und greife nach Johnny Thunders „So Alone“, lege die Nadel in die zweite Rille und speichere meinen Text. Es läuft „You Can`t Put Your Arms Around Memory“.