Dierk Seidel

Die Bühne ruft, ich rufe nicht zurück

Vor ungefähr einem Jahr, am ersten März 2020 stand ich das letzte Mal auf einer Bühne. Nein, vielmehr saß ich auf einem roten Sofa und las Kindern Astrid Lindgren- Geschichten vor. Bei einer Szene baute ich etwas Spannung auf und fragte die Kinder:

„Na, was glaubt ihr, wer da jetzt ankommt?“

Ein Junge, der etwas zappelig unterwegs war, rief rein:

„Das ist doch klar, Karlsson kommt und stellt sich vor.“

„Ja, recht hast du“, sagte ich und las weiter.

Zwei Wochen davor stand ich in Rheine bei einem Poetry Slam auf der Bühne. Es war ein fantastischer Abend. Die Stimmung war gut, ich war entspannt und gleichzeitig so angespannt, dass das Grübeln, welche Texte ich lese, schon anstrengend wurde. Aber ich traf genau die richtige Wahl und war am Ende des Abends glücklich und zufrieden mit mir selbst. Ein paar Tage später kam noch eine fünfzehnminütige Lesung als „Vorband“ bei einem Konzert von „Fotos sind Käse“. Und das sollte es dann erstmal gewesen sein.

Im Sommer 2020 gab es vereinzelt Open-Air-Slams, aber zu denen zog es mich nicht. Denn im Grunde, so sehr ich die Momente im Backstage mit lieben Kolleg:innen, die Grübelei, welche Texte ich lese, die Anspannung vor dem Auftritt, die Erleichterung danach und das Gefühl, mit meinen Texten andere Menschen zu erfreuen oder sie zum Nachdenken gebracht zu haben, liebe, stehe ich ja auch unter einem Druck, der schon vor den Abenden beginnt.

Man kann nicht ewig mit den Texten auftreten, die schon vor längerer Zeit geschrieben wurden. Zum einen kann es sein, dass ich sie an dem Auftrittsort schon gelesen habe, zum anderen fühlt es sich einfach nicht gut an. Egal wie gerne ich die Texte habe, auf ewig will ich sie nicht lesen. Ab und an ist es Zeit, sie wieder heraus zu kramen, aber nur weil ich keine neuen Geschichten geschrieben habe, ist kein guter Anlass.

Die Veranstalter:innen im näheren Umkreis kennen mich und wissen, wie es bei mir so läuft. Und ab und zu komme ich auch raus aus diesem Kreis. Und es ist auch nicht so, dass ich tausende Anfragen für Auftritte bekomme, aber dennoch war im ersten Moment der Lockdown im Frühjahr 2020 gut für mich, da sich so gar nicht die Frage mit einhergehenden Entscheidungsschwierigkeiten stellte, ob ich zusagen sollte. Immerhin habe ich vor einigen Jahren schon einmal eine Geschichte über Entscheidungsschwierigkeiten geschrieben. Spiegelgesicht heißt sie, ich habe sie schon recht lange nicht mehr gelesen.

In diesem Text klammere ich die Probleme aus, die es gerade für Künstler:innen, die hauptberuflich von Auftritten leben müssen, gibt. Nicht, weil ich sie nicht sehe, sondern weil dieser Text meine persönlichen Empfindungen beschreibt und die Bühne und das Schreiben, realistisch betrachtet, bei mir nicht mehr als ein erweitertes Hobby ist. Das macht natürlich Poetry Slam auch aus. Der Mix.

Im vergangenen Jahr habe ich wieder vermehrt geschrieben, aber ob ich deshalb sofort „hier“ schreien würde, wenn es wieder ganz viele Poetry Slams und Lesebühnen geben würde, ich weiß es gerade nicht.

Seit 2009 stehe ich relativ regelmäßig auf Slam-, Lese- und Theaterbühnen und trage meine Geschichten und Gedichte oder bei Theaterproduktionen auch Fremdtexte oder Kollaborationen vor. Und dennoch waren es, wenn ich nochmal alles genau nachzählen würde, wesentlich weniger Bühnenauftritte als so mancher Mensch, der erst vor Kurzem Poetry Slams für sich entdeckt hat. Aber das ist okay.

Und die Erfahrungen, die ich in über 10 Jahren Bühne gemacht habe, die Menschen, denen ich begegnet bin, möchte ich nicht missen. Und ich freue mich sehr, auf den Tag, an dem ich wieder unbesorgt auf Kleinkunstbühnen stehen kann. Doch auf der anderen Seite wird sich dann auch immer wieder die Frage stellen, ob ich es brauche und ob es mir in der Zeit dann gerade guttut. Aber generell wieder die Möglichkeit zu haben, wäre ein großes Glück, das ich zu schätzen wüsste.

Und wenn die Bühne ruft, dann rufe ich zurück – vielleicht.