Dierk Seidel

Der Fährmann

Er packte seine Sachen morgens um halb sechs. Um diese Zeit war er immer etwas wackelig auf den Beinen, aber das war schon so gewesen, als er noch jung war. Aus dem Kühlschrank nahm er seine abgepackten Brote und zwei Bier. Die Thermoskanne mit Kaffee reichte für einen ganzen Arbeitstag. Das war schon immer so – seit 38 Jahren – und auch heute würde sich daran nichts ändern. All das, was er für den Tag brauchte, packte er in seine rote Fahrradtasche, zog den Reißverschluss seines Pulloverkragens nochmal hoch, setzte seine Schirmmütze auf und radelte die 9km zur Arbeit. Immer am Deich entlang. Auf dem Weg hielt er einmal kurz an und blickte auf die Brücke, die die Ufer miteinander verband. Hochmodern, Eisenbahn- und Autobrücke in einem und hoch genug, dass ein Großteil der Schiffe hier entspannt durchfahren konnte. In den paar Minuten, die er das Treiben beobachtete, passierten viele Autos den Fluss. Weit mehr als er während seiner Arbeitszeit heute sehen würde.

Er radelte weiter, nickte den Schafen am Deich zu und erreichte irgendwann den Anleger, kettete sein Rad an und ging zur Fähre. Die Fähre, die er seit 38 Jahren betrieb. Viele Jahre nur mit Zugkraft. Ein Seil, das die Fähre in Spur hält und an dem er und sein Kollege kräftig ziehen mussten. Mit den Jahren hatte er dafür gesorgt, dass ein kleiner Motor sie unterstützte. Das Ziehen gehörte aber dennoch zum Geschäft. Wenn Menschen kamen, wollten sie das sehen. Drei kleine oder zwei große Autos und eine Handvoll Fahrräder passten auf die vergrößerte Nussschale. Der Fährmann begrüßte Georg, seinen Mitarbeiter. Er ist noch jung, er wird was finden, dachte der Fährmann.

Sie packten beide ihre Proviantpakete in eine kleine wasserfeste Box am Rand der Fähre und setzten sich auf dieselbige. Sieben Uhr. Der Arbeitstag begann. Es war sein letzter. Die Fähre sollte an ein Museum gehen. Nach einer Stunde Wartezeit und Schweigen hörten sie die Glocke auf der anderen Seite. Die beiden machten ihre Arbeit und zogen die kleine Fähre rüber. Zwei Autos setzten auf die Fähre auf. Während der kurzen Fahrt stiegen die Pastorin und der Lehrer, der naheliegenden Grundschule aus ihren Autos aus. Der Fährmann redete nicht viel, aber er hörte gut, was geredet wurde. Viele Geschichten hatte er in seinem Leben gehört. Diese noch nicht.

„Was machen Sie heute mit Ihren Schülern, Herr Meyerhoff? Es ist schon kurz vor den Ferien, wollen die Kinder da überhaupt noch etwas lernen?“

„Ach, wissen Sie, Frau Pastorin, es ist nie zu spät zum Lernen. Aber in der Tat, heute wollte ich eine Wanderung mit den Kindern unternehmen.“

„Da kann ich Ihnen einen Tipp geben“, sagte die Pastorin und lächelte. Mehr konnte der Fährmann nicht hören, weil er sich um das Anlegen kümmern musste.

Während des Tages war die Fähre erstaunlich gut besetzt. Weitestgehend ging alles in eine Richtung. Manche, wie die Pastorin, fuhren sogar mehrfach. Es war heute so viel los, dass sowohl dem Fährmann als auch Georg keine ruhige Minute blieb, um auch nur einen Schluck Kaffee zu trinken. Der Fährmann hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, dass er die Einnahmen des letzten Tages 1 zu 1 mit Georg teilen wollte. Was das anging, war es schon ein guter Tag.

Um 18 Uhr setzten sie das letzte Mal mit Gästen über und der Fährmann beschloss, dass es nun Zeit wäre für ein Bier mit Georg. Sie setzten sich auf die Box, stießen an und unterhielten sich über den verrückten Tag und grübelten, ob vielleicht jemand wusste, dass es der letzte Tag sei. Nirgends hatten sie es bekannt gegeben. So still wie die Fähre in den letzten Tagen war, so still sollte auch der Abschied sein. So war der Deal zwischen Georg und ihm. Ihnen fiel auch nicht ein, wem sie etwas erzählt haben konnten. Dann wurden sie wieder stiller und tranken ihr Bier.

Seit die Brücke existierte, hatten die beiden viel Zeit, sich auszutauschen. Der Fährmann sprach viel über Ruhe und die Langsamkeit im Treiben der Menschen und Georg erklärte ihm, wie der ganze Spaß mit Netflix, Spotify und ähnlichem Krams funktionierte. Wenn er im Ruhestand wäre, würde er sich damit befassen, da war er sich sicher.

Georg blickte rüber zum anderen Ufer und sie hörten beide die Glocke.

Merken die denn nicht, dass wir durch sind, fragte sich der Fährmann.

„En lest grote Fahrt, mien Kaptain“, sagte Georg und dann zogen sie rüber. Sie mussten ohnehin zu ihren Rädern zurück.

Nach wenigen Minuten Zug- und Motorkraft legten sie an. Es warteten keine Fahrräder und keine Autos, aber ca. 30 Grundschulkinder mit ihren Eltern und Herr Meyerhoff. Sie sangen ein Abschiedslied und spazierten auf die Fähre. Ihnen folgte Georgs Berater vom Arbeitsamt, die Mitarbeiter des Heimatmuseums und alle Gäste des heutigen Tages. Eine Truppe spielte Musik, andere hatten Getränke dabei und umringten Georg und den alten Fährmann.

Der Fährmann blickte mit glasigen Augen und einem Grinsen im Gesicht durch die Menge, entdeckte die Pastorin und neben ihr seine Frau. Seit 38 Jahren waren sie verheiratet. Nun musste sie ihn nicht mehr teilen.

Er hatte keinen großen Abschied gewollt, er hatte Angst, vor den Menschen weinen zu müssen. Ein Fährmann weint nicht, dachte er immer. Aber eigentlich ist das auch Quatsch, dachte er nun, lächelte weinend seine Frau an und gab sich der großen Abschiedsfeier hin.