Dierk Seidel

Das Grübelmonster

Leander          

Leander lag hellwach in seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Hin und wieder wanderte sein Blick zu seinem Schreibtisch. Da standen seine neuen Sneaker. Sie beunruhigten ihn. Es waren keine ungewöhnlichen und auch keine uncoolen Sneaker, dennoch machte Leander sich schon seit mindestens zwei Stunden Gedanken. Er grübelte und konnte vor lauter Grübelei nicht einschlafen. Sein Blick wanderte von der Zimmerdecke zu den neuen Schuhen und weiter nach links zum Schreibtischstuhl, auf dem er seine Kleidung ablegte. Sein Atem stockte. Auf seinem Stuhl saß ein blaues flauschiges Monster und lächelte ihn an. Der Vollmond warf genügend Licht ins Zimmer und Leander konnte, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, das Monster genau betrachten. Es war ca. 2,5 Meter groß und sein blaues, leicht verfilztes Fell stand in alle Richtungen ab. Das Monster hatte runde Kulleraugen und einen sehr breiten Mund, aus dem an den Seiten zwei scharfe Zähne herausragten. Aber insgesamt wirkte dieses Monster freundlich auf Leander. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen.

„Hallo, ich bin Leander. Wer bist du und was machst du hier?“

„Ich bin das Grübelmonster.“

„Das Grübelmonster?“

„Ja, genau. Ich spaziere so durch die Nacht und treffe Menschen, die zu viel grübeln. Und dann begleite ich sie ein Stückchen.“

„Und was willst du dann bei mir?“

„Na, willst du mir etwa sagen, du grübelst nicht?“

„Vielleicht ein wenig.“

„Was beschäftigt dich?“, fragte das Grübelmonster behutsam.

„Meine neuen Schuhe. Die da!“

Leander zeigte auf seine Schuhe und das Grübelmonster drehte etwas schwerfällig seinen Kopf zu den Schuhen.

„Hübsch, gibt es die auch in meiner Größe?“, fragte es und fing an zu kichern. Viel zu hoch und sehr unpassend für ein so großes Monster, dachte Leander und erwiderte:

„Ja, die sehen grundsätzlich gut aus, aber ich habe immer Angst, wenn ich neue Sachen habe, vor allem bei Schuhen, dass man mich anstarrt und komische Sprüche ablässt. Und gerade bei Schuhen denke ich, obwohl ich gar nicht so große Füße habe, wirken meine Füße mit neuen Schuhen riesig, so dass sie jeder sehen kann. Das beschäftigt mich schon den ganzen Abend.“

„Sind denn deine Mitschüler und Mitschülerinnen gemein?“

„Bisher nicht, aber vielleicht ja morgen.“

„Ja, das werden wir heute nicht mehr erfahren. Ich muss jetzt weiter, ich habe noch ein paar Besuche auf meiner Liste. Ich wünsche dir eine gute Nacht und morgen einen schönen Schultag.“

Das Monster erhob sich und stapfte zum Fenster, öffnete es komplett und zwängte sich hindurch. Leander hörte einen dumpfen Ton, gefolgt von Stille. Er stand auf und blickte zum Fenster hinaus, aber das Grübelmonster war weg. Er schloss das Fenster und legte sich wieder hin. Einen kurzen Moment fragte Leander sich, woher dieses Monster gekommen war, dann schlief er ein.

Ruby

Es war mitten in der Nacht und Ruby war hellwach. Sie hatte gegen 23 Uhr die Nachrichten gesehen und konnte nicht abschalten. Überall in der Welt gab es Kriege und Naturkatastrophen, bei denen Menschen starben. Ruby konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, das konnte sie noch nie. Sie hatte zu allen Todeszahlen sofort Bilder und Geschichten im Kopf. Ihr war alles so klar, als würde man durch eine Menschenmenge gehen und alle Gedanken der Menschen hören. Die Geschichten im Kopf machten sie fertig. Sie wollte einfach nur schlafen. Es gab Tage, da war sie völlig frei im Kopf, doch nun hatte sie schon vier Tage nicht geschlafen.

Ruby lief durch ihre Wohnung. Ihr Blick war zum Boden gerichtet, Lebensläufe ratterten durch ihren Kopf. Plötzlich sagte jemand:

„Hallöchen, wie geht es dir?“

Sie blickte hoch und sah das Grübelmonster.

„Du bist in meiner Fantasie, oder? Ich bilde dich mir ein, weil ich zu wenig Schlaf hatte?“

„In deiner Fantasie? Nein, ich bin hier in deiner Küche. Darf ich mir ein paar von den Nachos nehmen?“

Das Grübelmonster wartete keine Antwort ab, griff in die Schüssel und schob sich eine große Handvoll in den Mund.

„Okay“; sagte Ruby, „wir tun mal so, als wärst du real. Wer bist du und was willst du hier?“

„Ich bin das Grübelmonster. Ich reise durch die Nacht, komme ins Gespräch und versuche Sorgen zu nehmen.“

„Du versuchst? Also keine Garantie?“

„Nein, garantieren kann ich nichts. Worüber grübelst du? Warum kannst du nicht schlafen?“

„Ich sehe Geschichten und verlorene Leben von allen verstorbenen Menschen, von denen ich mitbekomme.“

„Das ist wirklich eine große Grübelei. Ich habe mal einen Film gesehen, X Men oder so ähnlich hieß der. Da konnten die auch solche Sachen mit ihren Fähigkeiten. Aber ich glaube, du bist kein X Men. Das war ja nur ein Film. Wer bist du?“

„Ich bin Ruby und nein, die X Men gibt es nicht.“

„Ruby, du brauchst mal wieder Schlaf und jemanden, der dir hilft.“

„Ja, das weiß ich wohl, aber wie?“

„Das wird schon werden.“

Das Grübelmonster hüpfte vom Barhocker, der an der Kücheninsel stand und schnappte sich noch ein paar Nachos. Dann ging es zum größten Fenster, öffnete es, drehte sich zu Ruby und sagte:

„Ich wünsche dir alles Gute.“

Das Monster winkte und sprang kopfüber durch das offene Fenster. Ruby rannte zum Fenster und blickte die drei Stockwerke hinunter, aber das Monster war weg. Sie schloss das Fenster, setzte sich auf ihr Sofa, gähnte und schlief gedankenlos ein.

 

Luciana und Valentina

„Hast du gehört? Die Wahlergebnisse sind da, Mama und Papa haben darüber geredet. Die AFD hat im Osten viele Stimmen bekommen“, sagte Luciana.

„Ja“, sagte Valentina, „ich habe Angst. Ob wir jetzt abgeschoben werden?“

„Mein Lehrer hat gesagt, dass die Menschen heute klüger sind als früher.“

„Dein Lehrer hat sich auch bei Corona geirrt. Wird schon nicht so schlimm werden, hat er damals gesagt.“

„Lass uns versuchen zu schlafen. Gute Nacht, Valentina.“

„Nacht.“

Die beiden Mädchen lagen in ihren Betten, Valentina mit geschlossenen Augen, Luciana mit offenen, aber schlafen konnten sie beide nicht.

„Ich kann einfach nicht schlafen, Luciana, ich muss die ganze Zeit an das alles denken.“

„Ich hab auch keine Ahnung, wie ich jetzt schlafen soll. Ich verstehe das nicht, dass es Menschen gibt, die so sehr gegen andere Menschen sind.“

„Wenn ich dazu mal kurz was sagen könnte“; sagte eine etwas grummelige Stimme, die aus dem Streifen zwischen den beiden Betten zu kommen schien. Die beiden Mädchen erschraken. Luciana knipste die Nachttischlampe an. Valentina erblickte das Grübelmonster zuerst. Aufgrund des blauen Fells dachte sie sofort an die Parteifarbe der AFD.

Sie schrie:

„Ah, Hilfe, ein blaues Monster, ein AFD-Monster!“

Sie zog ihre Bettdecke bis knapp unter die Augen. Das Grübelmonster richtete sich auf und wollte beruhigen:

„Keine Sorge, ich bin zwar blau und ein Monster, aber mit der AFD möchte ich nicht einem Satz genannt werden. Außerdem sind die ja ohnehin eher braun.“

„Hast du aber doch gerade“, sagte Luciana.

„Wie, was habe ich?“

„Na du hast dich und die AFD in einem Satz genannt.“

„Ach so, ja, da hast du Recht. Also wie ich das meine, ist, dass ich genau anders bin als diese Partei. Ich bin ein Grübelmonster und ich versuche Menschen Sorgen zu nehmen, weil ich Menschen gerne habe und möchte, dass es ihnen gut geht. Diese Partei möchte ja genau das nicht.“

„Kannst du uns denn unsere Sorgen nehmen?“, fragte Valentina.

„Da grüble ich selbst schon lange drüber nach. Sonst kann ich immer durch meine positive Einstellung die Grübelei von den meisten Menschen aufnehmen. Ich saug die völlig easy auf und dann bin ich auch schon wieder weg. Hier ist das schwieriger. Aber eines kann ich euch sagen: Mit dieser Grübelei seid ihr nicht allein. Viele Menschen machen sich Sorgen, aber auch Gedanken, wie sie die Probleme, die die Menschen beschäftigen, lösen können. Eines sollte mittlerweile allen klar sein, die AFD will keine Probleme lösen.“

Das Grübelmonster stand ruckartig auf, ging zum Fenster und blickte sich um. Es lächelte den beiden Kindern zu und sprang dann heraus. Luciana und Valentina blickten sich fragend an. Valentina stand auf und schloss das Fenster.

Als sie wieder im Bett lag, sagte Luciana: „Ich frage morgen meinen Lehrer, ob er uns informieren kann, was so los ist, und was man tun kann, und ich sage ihm, dass er uns keine Sorgen nehmen soll. Das klappt sowieso nicht.“

„Dann pass aber auf, dass du dir alles merkst. Du musst mir das ganz genau erzählen. Lass uns schlafen, ich bin plötzlich hundemüde.“

Und dann schliefen sie.

Leander

Leander wachte gegen viertel nach sieben auf. Montags stand er immer allein auf, weil seine Eltern ganz früh zur Arbeit mussten. Er zog sich an, schlüpfte in die neuen Schuhe, schnappte seine Schultasche und ging los.

Auf dem Weg traf er seinen besten Freund Lutz. Sie alberten rum und kamen sehr schnell in der Schule an. Dort war alles wie immer. Es passierte nichts Aufregendes.

Nach der Schule lief er schnell und leichtfüßig nach Hause. Er schloss die Tür auf und zog sich die Schuhe aus.

„Leander, bist du es? Wie war dein Tag?“, rief sein Vater aus der Küche.

Leander betrachtete die Schuhe und lachte. Er hatte den ganzen Tag nicht daran gedacht. Niemand, aber auch wirklich niemand hatte seine Schuhe angestarrt oder etwas darüber gesagt.

„Es war alles gut, Papa, alles war gut.“

 

 

Ruby

Ruby war plötzlich hellwach. Sie schaute auf ihr Smartphone: 12:30 Uhr. Sie hatte fast zehn Stunden geschlafen. Sie fühlte sich etwas zerknautscht, aber trotzdem ausgeschlafen. Gesichter ploppten vor ihren Augen auf, aber sie kam für den Moment damit klar. Sie lief rüber zur Küchenzeile und ließ sich ein Glas Wasser ein. Neben der Schale mit den Nachos sah sie einen gedruckten Zettel. Es waren drei Adressen von Ärzten. Darüber stand mit krakeliger Schrift: Danke für die Nachos und nochmal alles Gute.

„Das Grübelmonster“, flüsterte sie. Sie betrachtete die Adressen, nahm ihr Smartphone und wählte die erste Nummer.

Luciana und Valentina

Luciana und Valentina trafen sich nach dem Schultag an den Fahrradständern.

„Und?“, fragte Valentina, „konnte dein Lehrer was Sinnvolles sagen?“

„Ja, er hat alles ganz genau erklärt, ohne mir meine Sorgen nehmen zu wollen. Schule ist nicht immer blöd.“

„Aber meistens“, sagte Valentina lachend. Dann gingen sie zusammen nach Hause und Luciana erzählte alles, was sie behalten hatte.

Das Grübelmonster und das Ende der Nacht

Der Morgen dämmerte und das Grübelmonster kam im Industriegebiet an. Es lief über den Parkplatz zu seiner Lagerhalle, öffnete eine Seitentür und ging hinein. An der Decke brannte matt eine einzige Lampe. Das Monster ging in die Mitte der Halle, wo ein extrabreites Feldbett stand. Daneben gab es ein Nachtschränkchen mit Lampe, Buch und Brille. Das Monster ließ sich auf das Bett fallen und knipste die Nachttischlampe an. Das Licht der Deckenleuchte erlosch und das Monster nickte zufrieden. Es setzte sich die Lesebrille auf und machte es sich mit dem Buch, einem Krimi, gemütlich. Nach ein paar Seiten legte es das Buch weg. Dann sagte es leise: „Hoffentlich schlafe ich schnell ein, das waren viele Gedanken heute Nacht. Zum Glück ist morgen wieder Selbsthilfegruppe. Da kann ich alles loswerden.“

Das Grübelmonster drehte sich zur Seite und dachte an Schuhe, Geschichten von Toten und an den Mut von Luciana und Valentina.