Dierk Seidel

Das erste Mal

(Geschichte vom 20. September 2020)

Es ist auch meine erste Pandemie, dachte ich, als ich mich etwas beruhigt hatte. Aber bis es soweit war, hat es eine Zeit gebraucht. Ich lief den Gang zur Klasse entlang und regte mich direkt unter meiner Mundnasenbedeckung auf. Da treiben sie sich wieder auf dem Flur rum, obwohl sie die Regeln kennen. Nicht auf dem Flur herumtoben, schön an den Plätzen bleiben, und all das gelingt nicht, aber es sollte doch gelingen, es ist doch Pandemie.

Wie war das als ich in der 8. war? Ich kam neu in die Klasse und als Erstes stürmten zwei Riesenbrecher in Baggypants und Kapuzenpullis in meine Richtung und ich fürchtete schon das Schlimmste, aber sie manövrierten geschickt um mich herum. Ihnen folgte langsamer ein stiller Typ mit grauer Dickieshose und gelbem Pulli ohne Kapuze. Er war nicht so nen Brecher und war dennoch immer der Stärkste im Armdrücken in der Klasse. Er hatte einen guten Musikgeschmack und mit ihm war ich auf meinem ersten Hosenkonzert, aber das wusste ich da ja noch gar nicht. Das kommt vielleicht in einer anderen Geschichte. Alle drei, gute Jungs. Das kann man mal sagen. Fortan spielten wir ähnliche Spiele mit der Nachbarklasse und tobten, wie meine Schüler heute, aber meist standen wir nur am Fenster, blickten auf den Schulhof und nach links zum Treppenhaus und rannten in die Klasse, sobald wir den Lehrer oder die Lehrerin sahen. Hätten wir jetzt in der Schule einen Flur mit offenem Treppenhaus, wer weiß, vielleicht würden die Jungs dann auch am Fenster stehen und ruhig warten. Vielleicht aber auch nicht, weil ja heutzutage alles ganz anders ist. Ganz bestimmt. Es ist immer alles anders. Früher war alles viel viel besser. Immer.

In Zeiten einer Pandemie müsste man aber doch eigentlich meinen, dass sie doch jetzt mal nicht toben müssen. „Muss denn das sein?“, fragt man sich da. Da schrillen dann direkt Alarmglocken und dann denk ich, es ist doch auch ihre erste Pandemie, da muss man die Kirche mal im Dorf lassen. Wäre ja noch schöner. Mobile Kirchen, wo kämen die denn dann hin?

Aber nein, denke ich dann wiederum. Wir machen das ja nicht zum Spaß. „Abstand!“ rufen. „Maske hoch!“ rufen. „Über die Nase!“ rufen. „Abstand beim Essen!“ rufen. Viel rufen und viel erklären, weil es wichtig ist, weil man Sorge hat vor der Krankheit, dass man selbst erkrankt, dass Angehörige erkranken, Sorge hat vor Schulschließungen, Sorge hat, Familie nicht sehen zu können, Sorge hat, dass es noch sehr lange anhält, aber all das Rufen und Erklären verhallt. Und es ist klar, dass es verhallt. Es ist ja ihre erste Pandemie. Da wird man ja wohl noch toben dürfen, denken sie sich vielleicht. Es ist wie mit dem Klimawandel. Die Gefahr ist nicht greifbar. Also ist auch keine Gefahr da. Und draußen, außerhalb vom Kosmos Schule ist die Gefahr ja ohnehin gebannt. Da gelten keine Regeln, so scheint es. Abstandsregeln gelten nur in Schlangen. Woanders? Scheißegal. Passiert schon nichts. So kriegen sie es vorgelebt. Warum sollte es in der Schule anders sein? Wo regt man sich noch auf und wo lässt man die Kirche sich nen kleines bisschen verrücken? Es ist für uns alle unsere erste Pandemie. Schön ist das nicht. Aber wenn wir ein Fenster im Flur hätten, dann wäre alles ganz anders. Zumindest bei meinen Schülern, die auf dem Flur toben. Da bin ich mir sicher.