Sarah Chiyad

Circus

„Bin ich zu spät?“, fragte Mina. Das abgewetzte Zirkuszelt, in das sie gerade eingetreten war, flatterte im auffrischenden Wind.

Sarah Chiyad Kurzgeschichte: Circus„Ah, bonjour petit madame. Zu spät? Was heißt zu spät? Komm näher.“ Der große Jean Marseille saß auf der untersten Ebene der Zuschauertribüne. Sein geschminktes Gesicht lag zur Hälfte im Schatten. Der falsche Mund wirkte in dem schwachen Licht blutrot. Als hätte man ihn aufgeschnitten, dachte Mina und bereute beinahe, dass sie gekommen war. Sie fröstelte und zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu. Angst vor Clowns … das war doch Kinderkram. Ich bin zu alt für sowas. Mit 11 Jahren, so glaubte sie, konnte sie nichts mehr schrecken. Sie war doch schon so gut wie erwachsen und wovor hatte ein Erwachsener schon Angst? Außer vielleicht …

„Ich … heiße Mina. Ich habe gehört, du könntest mir vielleicht helfen.“ Sie wurde rot. Selbst nach zwei Jahren stolperte sie noch manchmal über Laute wie „ch“ und bellte das „r“ in einer Weise, dass ihre Mitschüler den „immer neuen“ Gag mit „Ik bin ain Berliner“ brachten und sich vor Lachen nicht mehr einkriegten.

So, wie es wohl nur ein Fremder bei einem Fremden kann, schien Jean ihre Verlegenheit wahrzunehmen und lächelte. Es war sicherlich ein freundliches Lächeln, doch Mina schauderte etwas, als sie die Reihe makelloser Zähne in der blutroten Umrahmung sah. Es wirkte, als sei sein halbes Gesicht aufgeklappt.

„Wie kann ich behilflich sein, mon amie?“ Er hielt drei bunte Bälle in den Händen, die aus dickem, gefärbtem Leder genäht waren, das an einigen Stellen abgerieben war.

Mina griff unwillkürlich nach dem Saum ihrer Ärmel und zog den Pullover tiefer, sodass er ihre Hände halb bedeckte. Gedämpft konnte sie das geschäftige Treiben auf dem Platz hören, das durch den dicken Stoff der Rundleinwand drang. Die Holzmasten ächzten unter der Last des Zeltes, das sich noch gegen den erstarkenden Wind stemmte wie eine letzte kleine Festung auf der kargen Wiese, auf der es stand.

„Man sagt, du wüsstest viel über das Leben … und den Tod.“ Mina fürchtete, dass ihre schwache Stimme im Geheul des Windes unterging, doch Jean nickte, als hätte er jedes Wort verstanden und wirkte gar so, als gebe es nichts, was er nicht verstehen könne.

„Wissen, mein Kind, ist ein großes Wort. Setz dich zu mir!“, sagte er und wies auf den Platz neben sich. Mina trat auf ihn zu und versuchte dabei, das Schwindelgefühl zu verbergen, das sie ergriffen hatte. Dann ließ sie sich auf den Sitz sinken, insgeheim dankbar, dass sie ihn nicht verfehlt hatte. Die plötzliche Nähe zu dem Clown fühlte sich seltsam an, wenn auch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Trotz seiner unheimlichen Aura ging eine gewisse Geborgenheit von ihm aus. Er blickte sie mit seinen freundlichen grauen Augen an und ihr Körper entspannte sich.

„Du hast viel durchgemacht, nicht wahr? Trés triste.“ Mina streckte die kribbelnden Beine aus und schaute auf ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte. Ihre Augen brannten. Sie sind nur trocken, dachte sie, reiß dich zusammen. „Wann … wann hast du es gemerkt?“ Minas Stimme zitterte. Sie schaute Jean in die Augen, die schon so viel gesehen hatten und fragte sich, ob sie jemals eine solche Ruhe finden würde, wie sie in seiner Miene lag.

„Mon enfant, das ist schon eine Ewigkeit her und eine Ewigkeit lag davor.“

„Wie?“

„Bonne question“, sagte er und lachte. „An einem Ort wie diesem passiert jeden Tag etwas Ungewöhnliches, da fällt einem so etwas nicht sofort auf.“

„Meinst du, wenn … wenn es woanders passiert … ist es dann anders?“

Jean zuckte mit den Achseln. „Vielleicht. Wir waren damals alle zusammen, deswegen war es wohl so, wie es war. Seit der Zeit hat sich hier nicht so viel verändert.“ Mina biss sich auf die Unterlippe. Es fiel ihr schwer, sich das vorzustellen.

Unterdessen wurde das Heulen des Windes lauter und die Geräusche der Arbeitenden draußen nahmen ab. Die Zeltplane hatte sich von ihrer Verankerung losgerissen und flatterte nun gegen die Leinwand.

„Il fait mal … Nur eine Frage der Zeit, bis es regnet.“ Jean runzelte die Stirn.

„Die anderen sagen … Hast du auch so vieles vergessen?“ Für einen kurzen Moment starrten seine Augen ins Leere. Schließlich nickte er.

„Jede Minute ein bisschen mehr, bis es irgendwann …“ Da setze der Regen ein und prasselte laut wie Pistolenkugeln gegen das verwitterte Zeltdach. „Bis es irgendwann nur noch dieses Zelt gab.“

Mina seufzte. „Das tut mir Leid.“

Der große Jean Marseille schüttelte den Kopf. „Ahh, mach dir keine Gedanken, c’est bien.“

„Hast du je daran gedacht, einfach wegzugehen?“

„Am Anfang schon, mais oú? Hier gehöre ich hin.“

Mina schluckte. Nach einer Pause sagte sie: „War es schlimm?“

Der Clown stand auf. „Ahh, schau, dieser Regen! Wie sollen da die Zuschauer kommen? Es wird Zeit, dass ich mich vorbereite.“ Er grinste und legte ihr einen der Bälle in die Hand. Er fühlte sich kalt und rau an. Mina zitterte. „Geh nicht weg.“

„Hab keine Angst, belle fille.“

„Wirst du da sein?“

Jeans Lächeln war warm. „Oui, nicht mehr lange, Kind. Ich hole dich ab und wir schauen uns die Show zusammen an. À bientôt, petit madmoiselle!“

Das blaue Licht des ersten Blitzes erleuchtete das verlassene Zirkuszelt. In Strömen floss der Regen die geschwärzten Maste entlang. Mina hieß die Kälte willkommen.

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