Malte Klingenhäger

Bauklötze

Ein kleiner Junge sitzt im Wohnzimmer seiner Großeltern auf dem Boden. Er hat den Teppich zur Seite gerollt und begonnen, aus Bauklötzen einen Turm zu bauen. Bedächtig, und mit einer für ihn ungewohnten Konzentration, wiegt er einen der Bauklötze in seiner Hand. Es ist ein länglicher, grüner. Einer, der überall passen könnte und es doch nicht tut. Von dieser Sorte hat der Junge noch jede Menge. Die Entscheidung fällt schwer. Es ist eine dieser kritischen Situationen, in der ein einzelner Klotz über die weitere Konstruktion des Turmes bestimmen wird. Nachdenklich streicht er mit den Fingern über den grünen Lack. Er ignoriert den Großvater im Sessel neben ihm, der sich eine Pfeife stopft. Er ignoriert auch den Geruch des Grünkohls, der aus der Küche strömt, in der seine Großmutter hin und wieder mit dem Geschirr klappert und leise flucht.
Schließlich entscheidet er sich, den Klotz zurück in das Lager zu legen, dass er neben sich aufgebaut hat. Das hat ihm sein Opa beigebracht – die verschiedenen Klötze in ein Lager zu sortieren, bevor gebaut wird. Mehr darf Opa ihm nicht helfen, das hat Oma verboten.
Malte Klingenhäger Kurzgeschichte: Bauklötze„Lass den Kleinen mal selbst spielen“, hat sie gesagt und ihrem Mann zur Beschwichtigung Pfeife und Tabak hingehalten. Das bekam der Junge schon gar nicht mehr mit. Das betretende Schweigen, das er kommende Woche am Küchentisch seiner Eltern auslösen wird, wenn er davon berichtet, wie ihm sein Großvater beigebracht hat, ein Lager zu bauen, liegt ebenfalls in weiter Ferne. „Es war nur ein Missverständnis“, werden sie irgendwann sagen, wenn der Junge den Vorfall schon längst vergessen glaubt, und ihm einbläuen, sich ab jetzt möglichst genau auszudrücken, um solche Zerwürfnisse in Zukunft zu vermeiden. Weder versteht er das Problem, noch, warum seine Eltern nicht einfach nachgefragt haben. Aber an Verwirrung ist er in seinem Alter gewöhnt.
Jetzt grade zählen ohnehin nur die Bauklötze. Seine Fingerspitzen gleiten sanft über die verschiedenen Stapel der Hölzer. Ein bisschen Show gehört auch in jungen Jahren schon mit dazu. Endlich findet er einen passenden Quader, setzt ihn auf die schon bestehenden Säulen und greift sich drei weitere Klötze. Der Bau schreitet jetzt schneller voran, ein Stein erzwingt den nächsten. Der Junge spürt, dass Regeln am Werk sind, die er nur intuitiv – avant la lettre – begreift. Ästhetik, Logik, Statik und andere kulturelle Stolperfallen sind ihm unbekannt, aber er ahnt zumindest, das mehr dahintersteckt.
Fast ist der Turm jetzt fertig, doch mit der Spitze lässt er sich Zeit, muss die Steine etwas balancieren, was Opa schnauben lässt. Opa mag es lieber stabil. Aber Oma, die eigentlich zum Essen rufen wollte, ist begeistert.
„Das sieht toll aus!“ ruft sie. „Ja, wirklich. Du wirst mal ein Architekt, da bin ich mir sicher.“
Dann will sie schnell einen Fotoapparat holen, um den Turm zu fotografieren, doch in dem Augenblick, als sie aus dem Zimmer getreten ist, dreht der Junge sich um und holt mit einem bedeutsamen Blick den Rat seines Großvaters ein. Dem vertraut er mehr, denn die Oma scheint so ziemlich alles toll zu finden, was er baut. Wozu sich da Mühe geben? Opa mag es zumindest stabil. Der Großvater müht sich pflichtbewusst auf und schleift sein schlechtes Bein hinter sich her, während er den Turm umrundet.
„Schon stabiler als der Letzte. Und viel höher. Aber die Spitze hält nicht“, sagt er sanft und schlurft zu seinem Sessel zurück. Den Jungen stört die Kritik nicht, denn damit hat er die offizielle Erlaubnis, Opas Wanderstock aus dem Flur zu holen und den Turm aus sicherer Entfernung mit vorsichtigen Stößen gegen das Fundament zum Einsturz zu bringen. Oma wird sich ärgern, weil sie nicht schnell genug war, aber ihr Enkel wird ihr versichern, dass er ein neues, besseres Gebilde erschaffen wird. Ab und an, das hat er sich fest vorgenommen, wird er ein Photo zulassen, sofern Opa und Enkel übereinstimmen, dass es die Mühe wert ist.
Omas Weisheit, das weiß der Junge inzwischen, war ohnehin keine unmittelbare, denn Architekt ist er bis heute, knapp zwanzig Jahre später, nicht geworden. Aber er möchte glauben, dass sie trotzdem mehr wusste, als er ihr zugestanden hat, wenn er, wie jetzt die Augen öffnet, für eine Sekunde die Bauklötze und Buchstaben ineinander verschwimmen sieht und sich daran macht, die Sätze auf seinem Bildschirm mit Opas Wanderstock aus sicherer Entfernung heraus auf ihre Stabilität hin zu überprüfen. Aufbauen, abbauen, neubauen und mit der Unendlichkeit flirten.

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