Dierk Seidel

Ausgestiegen

Beinahe fünf Jahre fuhren wir morgens zusammen. Immer mit dem 6:35er. Sie stieg etwas früher aus. Das war einfach so. Mittags fuhren wir nicht zusammen. Unsere Schlusszeiten waren scheinbar immer unterschiedlich. Ich saß meist an einem Viererplatz am Fenster. Sie ebenfalls, gegenüber. Ab und an fuhr ein Kollege von ihr mit, wenn er, wie er ihr dann erzählte, auf sein Auto verzichten müsse, seine Frau, die Kinder, die Schwiegereltern. Sie nickte, dann redeten sie meist über die Schule, an der sie beide arbeiteten. Wenn wir uns setzten, nickten wir uns kurz zu. Nach den großen Ferien gab es auch mal kurze Gespräche.

„Sie waren ja schon länger nicht mehr da. Ferien gehabt?“

„Ja, ja, wie immer eine Woche zu kurz.“

„Ach, ja, so ist es meistens. Aber man will sich nicht beklagen. Sind Sie weggewesen?“

„Ja, diesmal waren wir in Kroatien, mein Mann brauchte unbedingt Sonne.“

„Ach, schön. Ja, da wollen wir auch nochmal hin. Wir waren wieder in Warendorf. Da haben wir ja unseren Stellplatz.“

„Ja, richtig.“

Und meist war es das dann auch, man tat wieder das, was man so machte, im Zug. Starren, denken, Musik hören, lesen oder schlafen.

Nun war sie schon länger nicht mehr da und es gab auch keine großen Ferien. Mein Blick ging immer wieder zu ihrem Viererplatz, der nie von anderen Personen besetzt wurde. Als würde die Bahn ihn für sie freihalten.

Eines Tages saß ihr Kollege auf einem der Viererplätze. Er guckte mich an.

„Ja, ich muss mal wieder den Zug nehmen. Na, gibt Schlimmeres.“

Ich blickte auf ihren Platz. Er blickte auf ihren Platz.

„Ja, sie hat die Stelle gewechselt. Wissen Sie ja sicher schon. Ging ganz schnell. Ich weiß aber nicht warum. Geht uns aber ja auch nichts an.“

„Nein, das geht uns nichts an“, sagte ich und blickte aus dem Fenster.

Am nächsten Tag war ihr Viererplatz besetzt.