Dierk Seidel

Aus der Reihe: Geschichten von oben

Es gibt Häuser, nicht viele, die höher sind als dieses, und dennoch sind es Geschichten von oben, die so kommen und gehen. Mal kurz, mal lang. Im Dämmerlicht. In der Morgensonne. In tiefster Nacht oder auch ganz zeitlos. Geschichten von oben.

Alles immer von oben

Die Wohnung, nein das eine Zimmer, nicht verlassen für mindestens fünf Tage. Und so wie ich drauf bin, bin ich mir sicher, dass es mehr als fünf Tage werden. Während dieser Zeit hat man Zeit zum Nachdenken, denke ich. Aber der Kopf ist matschig. Also viel schlafen und viel trinken. Immer im Wechsel. Ab und zu auf den Balkon gehen. Ich habe einen Balkon. Luxus. Und in meinem Isolationszimmer mit Fernseher, Büchern und Schallplatten kann ich acht Meter in die eine und acht Meter in die andere Richtung gehen. Luxus.

Es passiert nicht viel.

Tag 1. Ich blicke vom Balkon und entdecke auf der Straße eine Pfütze. Es hat seit Tagen nicht geregnet.

Tag 2. Die Pfütze ist immer noch da, nur ein wenig von umherfahrenden Autos verteilt. Ob jemand seinen Hausflur gewischt und das Restwasser auf die Straße geschüttet hat?

Tag 3. Die Pfütze ist noch da. Oder schon wieder. So oft wischt doch niemand sein Treppenhaus. Außerdem schäumt das Wasser gar nicht. Es sieht eigentlich sehr klar aus.

Tag 4. Die Pfütze, ihr ahnt es schon. Meine Augen sind heute etwas wacher als die übrigen Tage. Ich sehe, dass inmitten der Pfütze ein kleiner runder Schachtdeckel ist. Für einen Schacht allerdings viel zu klein. Der Durchmesser ist maximal 20 Zentimeter. Wer soll denn da reinpassen, wenn mal etwas kaputt ist. Nun ja, ich bin kein Tiefbauexperte.

Tag 5. Sehe in der größtenteils gleichgroß bleibenden Pfütze auf dem Schachtdeckel ein Blubbern. Ich schreibe dem Tiefbauamt eine E-Mail. Mal schauen, was passiert.

Tag 6. Es passiert nichts. Bis zum Nachmittag. Ein Mann von den Stadtwerken kommt und pömpelt an dem Deckel, dann kommt noch ein zweiter Mann dazu und pömpelt mit. Aber so richtig gelöst wird das Problem nicht. Mann Nr. 2 fährt davon und Mann Nr. 1 wartet. Aber worauf? Ich warte auch, trinke Tee, mache ein Nickerchen und warte weiter. Nach einiger Zeit fährt Mann 1 auch davon.

Tag 7: Es geht früh los. Mehrere Wagen, ein Fuhrunternehmen, ein kleiner Bagger und einige Männer sind da. Nochmals wird gepömpelt, dann die Straße aufgeschnitten, jede Menge Sand rausgeholt, neue Rohre werden verlegt und alles wird wieder ordentlich zugemacht. Zwischendrin werden Müllautos durchdirigiert, genau wie Klein- und Großwagen, und am frühen Nachmittag ist alles erledigt.

Abgesehen von diesem spektakulären Pfützenereignis geschieht wenig. Nur einmal schafft es ein LKW nicht durch die Straße. Ein Transporter steht im „absoluten Halteverbot“. Der LKW hupt. Ein Mann vom Ordnungsamt kommt auf seinem Fahrrad angefahren und fotografiert den Transporter. Der LKW-Fahrer sucht im anliegenden Geschäftshaus nach dem Fahrer oder der Fahrerin. Irgendwann kommt ein Mann angehetzt.

„Ich fahre direkt weg, sofort, nicht aufschreiben“, sagt er und will einsteigen.

„Sie stehen im absoluten Halteverbot“, sagt der Mann des Ordnungsamtes.

„Bitte nicht aufschreiben, bitte nicht“, sagt der Fahrer.

„Sie stehen im absoluten Halteverbot“, wiederholt sich das Ordnungsamt. Es druckt einen Zettel aus und gibt ihn dem Mann. Er nickt, steckt ihn in die Hosentasche und fährt weg. Der LKW-Fahrer will einsteigen, aber ein anderer Ordnungsamtmann kommt akribisch angerannt.

„Was stehen sie hier so rum? Sie blockieren die ganze Straße. Staubildung, sag ich nur“, sagt er.

„Ich fahr jetzt weg“, sagt der Fahrer, zeigt auf den anderen Ordnungsamtmann, steigt ein und fährt weg.

Die Ordnungsamtmänner geben sich die Faust und alles klärt sich. Ständig stehen dort Autos – im absoluten Halteverbot. Sonst passiert nie etwas, denk ich. Aber denken ist matschig.

Es passiert hier mal mehr, meist weniger zwischen Schlafen, Trinken und Balkon hier ganz oben.

Werder Bremen steigt auf. Immerhin. Werder ist auch wieder ganz oben.