Yasmin Alinaghi

Sommerbereifung

Paris, Frankreich, 2008

Zum Flughafen Charles de Gaulle hatten sie es immerhin geschafft, das war ein Schritt in die richtige Richtung. Marie wollte unbedingt nach Hause und verspürte keinerlei Lust auf eine weitere Nacht in Paris. Als freie Journalistin war sie in der französischen Hauptstadt gewesen, um für „die Kunstzeitung“ über die Ausstellung „Kunst, Film & Politik“ von Dario Azzellini zu berichten. Als es während der Ausstellungseröffnung im Centre Pompidou zu schneien begann, wusste sie sofort, dass schnelles Handeln gefordert war. Wenn in Paris Schnee fiel, brach der Verkehr binnen kürzester Zeit komplett zusammen. Sie hatte häufig genug erlebt, dass Taxis und Busse ihren Betrieb bereits bei leichtem Schneefall einstellten. Jetzt aber schneite es schon seit zwei Stunden kräftig und anhaltend, daher war die Suche nach einem Taxi sinnlos. Stattdessen versuchte sie, möglichst rasch, also am besten zu Fuß, zur Metrostation Chatelêt-Les Halles zu gelangen und von dort mit der RER B zum Flughafen Charles de Gaulle zu fahren. Die Metro-Station Rambuteau lag zwar näher zum Centre Pompidou, aber hier hielt nur die Linie 11 und somit müsste Marie in Chatelêt in die RER B umsteigen. Da sie mit überfüllten Metros rechnete, wollte sie sich das Umsteigemanöver lieber ersparen.

Yasmin Alinaghi Kurzgeschichte: SommerbereifungEine Journalistin aus Australien schloss sich ihr an. Samantha arbeitete zum ersten Mal in Paris, kannte sich weder in der Stadt noch mit dem Metro-System aus und hoffte, im Schlepptau von Marie sicher durch das Verkehrschaos zum Flughafen zu gelangen. Sie stammte von der sonnenverwöhnten Westküste des fünften Kontinents. Schnee hatte sie bisher nur in Fernsehberichten gesehen. Kaum betrat sie mit ihren hellen, eleganten Wildlederstiefeln den schneebedeckten Platz vor dem Centre Pompidou, rutschte sie aus und fiel der Länge nach in den Schneematsch. Marie ließ der fassungslosen Samantha keine Zeit, die Flecken auf ihrem Kaschmirmantel zu bedauern. Als sie sich mit ihren Koffern durch das dichte Weiß zur Metrostation Chatelêt-Les-Halles durchgekämpft hatten, waren auch Maries robuste Stiefel völlig durchnässt. Die RER war erwartungsgemäß hoffnungslos überfüllt. Erleichtert schafften es die beiden Journalistinnen, sich in einen Wagon zu quetschen und diesen schwitzend und zerzaust an der Haltestelle zu Terminal 2 des Flughafens Charles de Gaulle wieder zu verlassen. Samantha flog mit Qantas von Halle 2E über Singapur nach Sydney, Marie mit Air France von Abflughalle 2F nach Frankfurt. Nach einem endlosen Fußweg über Rolltreppen und -bänder erreichten sie endlich Terminal 2. Dort teilten sich die Wege zu ihren jeweiligen Gates. Sie verabschiedeten sich hastig und wünschten sich „Good luck“, in der Hoffnung, dass ihre Flüge nicht wegen des starken Schneefalls annulliert werden würden.

Inzwischen waren nicht nur Maries Stiefel nass und kalt, sondern auch ihre Strümpfe und Füße. Mehrere Abflüge waren bereits gestrichen worden, aber der Flug um 20.15 Uhr nach Frankfurt stand neben wenigen anderen noch an der Abflugtafel. Marie atmete erleichtert auf. Die mit 23.30 Uhr deutlich verspätete Abflugzeit störte sie in dieser Situation ausnahmsweise kaum. Sie richtete sich mit Sandwiches und schwarzem Tee auf eine längere Wartezeit ein. Die Vorräte des Kiosks in der Abflughalle gingen allmählich zur Neige. Die Wartehalle war nicht geheizt und unverschämt zugig. Marie trug inzwischen fast alle Kleidungsstücke, die sich in ihrem Koffer befunden hatten, am Körper. Warm wurde ihr trotzdem nicht. Um 21.00 Uhr telefonierte sie mit ihrer Redaktion.

„An deiner Stelle hätte ich keine große Hoffnung, dass du heute noch aus Paris wegkommst. Bei n-tv läuft über den Ticker, dass die Airports in Amsterdam, Brüssel und Frankfurt geschlossen sind. Am Flughafen Rhein-Main werden bereits Decken verteilt und Feldbetten für die gestrandeten Fluggäste aufgestellt“, erklärte ihr Kollege. Marie traute ihren Ohren nicht. „Das ist mal wieder typisch für die französische Aufklärungspolitik“, schimpfte sie ins Telefon. „Während in den Nachbarländern Notfallpläne greifen, stehen wir hier ohne Informationen.“ Sie schnaubte verächtlich. „Ach, warum ärgere ich mich überhaupt.“ Sie hatte direkt bei ihrer Ankunft in Charles de Gaulle und erneut vor zirka einer halben Stunde am Air-France-Schalter nachgefragt, ob der Flug nach Frankfurt tatsächlich heute gehen würde. Selbst für ihre auf frankophone Zwischentöne geschulten Ohren hatten sich die Beteuerungen des Bodenpersonals glaubwürdig angehört. Sie begab sich abermals zum Air-France-Counter und forderte resolut: „Erzählen Sie mir keine Märchen, n-tv meldet, dass der Flughafen in Frankfurt geschlossen ist.“ Die Air France-Dame gab sich mit einem fatalistischen Lächeln geschlagen: „Je suis désolée.“ Marie seufzte und verkniff sich die Frage, wann genau die wartenden Passagiere darüber informiert werden sollten. Stattdessen richtete sie ihren Blick nach vorne:

„Bon, seien wir realistisch. Bringen Sie uns in Hotels unter?“

„Mais, Madame, es gibt keine freien Hotelzimmer im Umkreis von 70 Kilometern!“ Das Air-France-Hütchen auf dem Kopf der Dame schaukelt bedauernd hin und her. Marie konnte ihren Ärger nur schwer verbergen. Vor drei Stunden hätte es wahrscheinlich noch eine Chance auf freie Unterkünfte gegeben.

„Alors, was gedenken Sie zu tun?“, fragte sie sarkastisch. Vor ihrem geistigen Auge verwandelt sich die Wartehalle 2F des Flughafen Charles de Gaulle in ein Feldbettenlager. Die Air-France-Dame zeigte sich sichtlich genervt von Maries impertinentem Informationsdurst, fühlte sich aber zu einer lahmen Antwort genötigt. „Falls – ich betone – falls es unser Versorgungsbus bis hierher schafft, was naturellement nicht sehr wahrscheinlich ist“, sie bedachte Marie mit einem schulmeisterlichen Blick, „dann werden wir eventuell Decken verteilen.“

„Vive la Trance!“ Marie verdrehte die Augen und verließ ohne ein weiteres Wort den Air-France-Schalter. Inzwischen war es 22 Uhr. Sie überlegte fieberhaft; wenn sie die Nacht in der zugigen Abflughalle verbrächte, bekäme sie eine Lungenentzündung. Davon war sie überzeugt, so durchgefroren, wie sie sich fühlte. Ein Mietwagen! Das war die Lösung. Ein Auto hätte weiche Sitze und dort könnte sie wenigstens die Heizung aufdrehen. Leider war sie zu müde, um die 500 Kilometer nach Frankfurt allein durchzufahren. Sie blickte verstohlen zu den anderen Fluggästen, die hoffnungsfroh auf den Flug in die Mainmetropole warteten. „Haben Sie Interesse, sich mit mir einen Leihwagen zu nehmen und nach Frankfurt zu fahren?“ Die meisten Passagiere hielten Marie für verrückt und brachten das deutlich zum Ausdruck. Sie wollten partout nicht glauben, dass der Flug gestrichen war.

„Aber dann hätte man uns doch informiert!“, belächelten sie Marie mitleidig. Unbeirrt fragte sie weiter. Zwei Männer sagten tatsächlich zu. Kim, ein Koreaner, wohnte wie Marie in Frankfurt. Er war bei Kia beschäftigt. Trygve war Norweger mit hervorragenden Deutschkenntnissen, denn seine Mutter war Deutsche. Er lebte in Oslo, war Cellist und hatte ein Engagement an der Alten Oper in Frankfurt. Gemeinsam eilten sie zu den Mietwagenschaltern. Alle Autoverleihfirmen außer Avis hatten bereits geschlossen. Die Dame am Avis-Schalter wollte ihnen zunächst kein Auto vermieten. „Wir haben nur noch zwei Autos mit Sommerreifen. Die kann ich unmöglich herausgeben.“

„Welche Marken?“, erkundigte sich Kim.

Die Avis-Dame schaute verwirrt. Sie hatte sich doch klar ausgedrückt: „Ich kann Sie keinesfalls bei diesen Wetterbedingungen ohne Winterreifen auf die Straße lassen.“

„Wir fahren auf eigene Gefahr“, versicherte Kim knapp. Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Er fragte nochmals, diesmal energischer: „Welche Marken sind verfügbar?“ Die Avis-Dame zögerte: „Ein 3er-BMW und ein Fiat Punto.“

Kim erklärte kurzerhand: „Wir nehmen den Fiat.“

Nachdem sie die Papiere unterschrieben hatten, erkundigte sich Marie bei der Avis-Dame ohne große Hoffnung, ob noch ein Navigationsgerät vorrätig wäre. Während die Avis-Dame bedauernd verneinte, zogen Kim und Trygve im gleichen Moment, wie auf Kommando und in Sekundenschnelle, jeweils ein GPS-Gerät aus ihren Aktentaschen. Verwundert registriert Marie, dass „Mann“ offensichtlich mit Navigationssystem auf Reisen ging.

Im Kofferraum des Punto gab es kaum Platz für das Handgepäck. Zum Glück reiste Trygve ohne sein Instrument. Kim bot an, die erste Strecke als Fahrer zu übernehmen. Trygve installierte vom Beifahrersitz aus nach einem kurzen Fachgeplänkel mit Kim sein viel besseres, weil der neuesten Generation entstammendes, Navigationsgerät. Marie machte es sich derweil auf dem Rücksitz bequem. Zufrieden stellte sie fest, dass die Rückbank deutlich bequemer war als die harten Plastikstühle in der Wartehalle des Flughafens Charles de Gaulle. Schlimmer als dort konnte es heute gewiss nicht mehr werden.

„Bist du sicher, dass wir mit dieser gummibereiften Kasperlebühne bei den Schneemassen überhaupt vorwärtskommen?“, kam es skeptisch vom Beifahrersitz. Kim lachte nur, gab Gas und befuhr sorglos die verschneite Rampe vom Parkhaus zum Flughafenring. Marie und Trygve verfolgten fasziniert, wie Kim den Fiat mit absoluter Sicherheit an den querstehenden Bussen, Autos und Lastwagen vorbei steuerte, die sich im Gegensatz zu ihnen in Schneewehen festgefahren hatten.

„Die Sommerreifen scheinen besser zu sein, als ich dachte“, staunte Trygve. „Der Punto fährt ja wie auf Schienen.“ Kim lachte:

„Das Profil spielt bei dieser Witterung keine Rolle, aber der Vorderradantrieb ist von Vorteil. Deshalb wollte ich lieber den Fiat.“ Trygve war nicht überzeugt und fragte zaghaft:

„Bist du denn sicher, dass du bremsen kannst?“

„Wieso bremsen?“, wunderte sich Kim, „das Auto beschleunigt doch kaum!“ Das Klingeln von Trygves Handy durchbrach das fassungslose Schweigen im Wagen. Trygve zögerte, nahm das Gespräch nach einem gequälten Blick in die Runde aber an: „Nein, Mutti … Alles in Ordnung, Mutti … Ja, Mutti … Nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen … Ja, ich melde mich von unterwegs.“

Sechs Stunden und vier Anrufe von Mutti später hatte Kim zwei Koffeintabletten aus Maries Vorrat intus und saß auf einstimmigen Beschluss immer noch am Steuer. Bei Kaiserslautern schlängelten sie sich auf der vereisten Fahrbahn mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit rechts und links im Slalom an den querstehenden LKWs vorbei. Seit der Akku von seinem Handy den Geist aufgegeben und damit auch den von Mutti vertrieben hatte, war Trygve entspannt. Marie döste ebenfalls sorglos auf der Rückbank. Die beiden genossen ihre Höllenfahrt regelrecht, seit sie wussten, dass Kim semi-professionell Tourenwagenmeisterschaften fuhr und in dieser Saison seinen Titel beim Kia Lotus Cup in Polen erfolgreich verteidigt hatte. Sie erreichten den Frankfurter Flughafen Stunden, bevor die erste Maschine in Paris abhob.

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