Malte Klingenhäger

Mitten nebeneinander

Malte-Kurzgeschichte-Mitten-NebeneinanderDeine Avancen damals. Deine. Boris drückt aufs Gaspedal. Wenn sie sich schon darüber streiten, von wem die erste Annäherung ausgegangen ist, dann sind die Weichen für den garstigen Verlauf der nächsten Wochen gestellt. Eine Diskussion darüber, welcher der Partner der vermeintlich Verantwortliche für die Beziehung ist, fällt schon in die Insolvenzverwaltung derselben.
Boris hat jedenfalls bereits ganz diskret einen befreundeten Arbeitskollegen gefragt, ob in dessen Haus bald wieder Wohnungen frei würden. Er ist sich sicher, dass Sabine ebenfalls plant. Nach 4 gemeinsamen Jahren kennt er sie gut genug, um das einschätzen zu können. Auch wenn sie darauf besteht, dass er es gewesen ist, der sie damals auf dem Jahrmarkt angegraben hat, wird sie jetzt diejenige sein wollen, die die Beziehung beendet. Schluss machen, tief einatmen, nächste Erfahrungsstufe des Lebens erreichen – so in etwa. Aber erst, sobald sie sich des Rückhaltes im Freundeskreis versichert und einen Argumentationsplan für das letzte Gefecht zurechtgelegt hat. Also nicht mehr diese Woche.
Eine Straßenbahn biegt vor Boris ein und er muss bremsen. Er passt die Geschwindigkeit an und versucht in gleichem Maße seinen Ärger zu unterdrücken. Jetzt grade braucht er einen klaren Kopf. Er mag ein Polizist sein, aber in Bezug auf seine Familie fühlt er sich wie die Feuerwehr. Wenn Sabine nicht dazugehören will, dann scheißt er eben auf Sabine.
Boris biegt an einer Kreuzung ab und hat wieder freie Fahrt. Er nähert sich seinem alten Viertel. Geschäfte links wie rechts, bunt gemischt und nicht auseinanderzuhalten. Die Reklametafeln werden an den Rändern seines Blickfeldes zu bloßen Farbflächen, so schnell düst er die Straße hinab. Das verbindet Polizisten und Feuerwehrmänner: Beide wissen, wie man schnell ans Ziel kommt. Und seine Schwester hatte gesagt, es sei äußerst dringend.

Sie selbst zu, wie du klarkommst. Von harten Jungs zu beknackten Egoisten in nur einer Krisensekunde. Seine Freunde waren keine Hilfe gewesen. Stattdessen war es seine Schwester, die ihn mit ihrem kleinen Fiat von der Schule abholte. Als Alex in der Pause das Grüppchen Glatzen vor dem Schulhof sah, hatte er zunächst seine Gang aufgesucht und dann, nachdem sie ihn bitterlich enttäuscht hatten, aus purer Verzweiflung seine Mutter angerufen. Die wiederum hatte seine Schwester eingeweiht und vorbeigeschickt, um ihn abzuholen. Jetzt sitzt er, von der kalten Wut, die sie ausstrahlt, zum Schweigen verdammt, neben ihr im Auto.
Gestern erst ein Mann geworden, heute schon, wie zur Strafe dafür, wieder zu einem kleinen Jungen degradiert. Alex sucht verzweifelt nach einer besseren Erklärung für seine Situation. Er wird sich rechtfertigen müssen. Seine Schwester ist wütend, seine Mutter enttäuscht und er kann sich sicher sein, dass die Reaktionen der übrigen Familie nicht positiver ausfallen werden. Vielleicht kann sein Bruder Boris ihm helfen, er ist Polizist. Ist zwar nicht sein Dienstbezirk, aber er wird wissen, was zu tun ist.
Alex riskiert einen kurzen Blick auf seine Schwester. Sie hat noch immer kein Wort gesagt. Er überlegt, was er ihr – vor allem auch, was er später seiner Familie sagen will. Er hat halt was mit dem falschen Mädchen angefangen. Woher sollte er wissen, wer sie ist. Die Stadt ist groß und er kann nicht alle Mädels in allen Diskotheken der Stadt kennen. Als sie gestern Nacht dann bemerkte, dass er nicht so deutsch war, wie seine blauen Augen und sein blondes Haar wirkten, war sie völlig ausgerastet. Wahrscheinlich weil ihr einziger Geistesblitz an dem Tag darin bestand, dass sie sich ihrer eigenen Blödheit bewusst wurde. Bescheißt ihren Kerl und dann noch mit einem Russen. Die hat ihren Leuten bestimmt wer weiß was erzählt, dass er sie vergewaltigt hätte oder sowas. Auf jeden Fall hat sie ihre Drohung wahrgemacht. Er wäre fällig gewesen, wenn seine Schwester ihn nicht abgeholt hätte.
Seine Gang hat er vielleicht verloren, aber auf seine Familienbande ist Verlass.

Kein Wort zu Papa, bitte. Den Wunsch kann Ruth ihrem jüngsten Sprössling leider nicht erfüllen. Auf ihren Mann wird es wahrscheinlich ankommen – und auf sie. Ruth ist entsprechend energisch bei der Sache. In nur fünf Minuten wird ihr Mann von der Arbeit zurück sein. Sein Teewasser ist aufgesetzt und die Fernsehzeitung liegt schon bereit, aber der Geruch des Bratens hat noch nicht das ganze Haus erobert. Er wird zwar merken, dass etwas nicht stimmt, wenn heute mal seine Frau in der Küche steht, doch das ist wichtig, denn so kommt er der Situation selbst ein bisschen auf die Schliche. Darauf ist er dann stolz und bleibt nachsichtiger bei dem Familienstreit, der unweigerlich folgen wird. Außerdem sind Tee, Bratengeruch und die Fernsehzeitung für ihren Mann wirksamer als jedes Sedativ, dass sie ihm von der Arbeit hätte mitbringen können.
Kurz nach ihrem Mann wird ihre Tochter Maria mit Alex im Schlepptau kommen, bald darauf wahrscheinlich Boris. Die Reihenfolge ist wichtig. Ihr Mann braucht etwas Zeit, um das Problem zu erfassen und sich auf die unweigerliche Diskussion mit Boris vorzubereiten. Und die ist wichtig, denn sie schärft und legitimiert die Lösung.
Ruth ist stolz auf ihre Fähigkeit, die Familie zu managen. Sie hat es damals sogar geschafft, dass Boris und sein Vater sich in den zwei Wochen, die ihr Ältester nach seiner Entscheidung zur Polizei zu gehen noch zu Hause gewohnt hat, morgens nicht gesehen hatten. Das verbindet sie mit ihrem Mann. Sie beide mögen es friedlich und sind bereit, dafür auch etwas zu tun. Ruth sorgt für das Timing, das Setting und das Informationsmanagement.
So auch jetzt. Sie weiß noch nicht genau, wie die Dinge sich entwickeln, aber sie hat ihr Möglichstes getan.

Hi. Mehr kam bislang nicht von ihm. Wie zusammengefallen er jetzt neben ihr sitzt. Die Ärmel trotz der warmen Luft im Auto heruntergezogen, als ob ihm kalt wäre. Ihr kleiner Bruder scheint sich plötzlich für das Gangtattoo zu schämen, auf das er sonst immer so stolz gewesen ist. Maria liebt ihre Familie sehr, aber ihr Bruder kotzt sie grade fürchterlich an. Die Presse wird sich für sein Abenteuer natürlich nicht interessieren. Maria ist als kleiner Fisch in der Politik noch nicht einmal für den Lokalteil wichtig genug, um ihr eine solche Familienklamotte anzuhängen. Aber das soll sich schließlich mit der Zeit ändern und die Klatschtanten im Viertel sind nicht so wählerisch, was Gerüchte angeht. Das Viertel hat ein sehr persönliches Gedächtnis, denkt Maria, und wenn dein Bruder mit der Braut der örtlichen Nazigröße vögelt, dann bleibt das hängen. An dir selbst, an deiner Familie und deiner Karriere. Wütend ballt sie die Faust. Ihr Bruder schaut sie kurz dann, dann dreht er sich wieder zum Fenster. Sie soll seine Tränchen nicht sehen, dabei sind die das einzige, was sie daran hindert, rechts ranzufahren und ihn zu verdreschen. Aber man drischt nicht auf das Elend ein, solange ist sie dann doch noch nicht in der Politik.
Warum war diese Faschotussi auch so unglaublich dämlich gewesen? Hatten diese Idioten keine Regeln, was das Rumhuren anging? Prüften die nicht den Stammbaum derjenigen, mit denen sie sich paarten? Diese Fotze hätte bloß Alex Nachnamen erfragen müssen. Wassiljew klang jetzt nicht grade arisch.
Hoffentlich weiß Boris, was zu tun ist, denkt Maria. Sie hat sich insgeheim schon darauf eingestellt, sich auf die Seite ihres älteren Bruders zu schlagen. Ihr Vater ist sicherlich in der Lage, sich auf seine Weise um das Problem zu kümmern, aber sie will sich nicht in den informellen Filz des Netzwerkes hineinziehen lassen, dass er in all den Jahren aufgebaut hat. Ihr Bruder wird zwar nicht beruflich kommen, dann würde Vater ihn sicherlich nicht einmal ins Haus lassen, aber er ist doch ein Beamter, ein offizieller Staatsvertreter.
Offiziell – ein Wort, das ihr Vater oft spöttisch ausspricht. Er hält nicht viel von Politik und Staat und tatsächlich ist es nur ihm anzurechnen, dass die vielen Migranten im Viertel seit Jahrzehnten friedlich zusammenleben. Nicht der Stadt, sondern ihrem Vater, aber das will Maria bald ändern. Ihr Vater ist zwar ein geachteter Schlichter. Jemand, zu dem man kommt, wenn es ein Problem gibt. Maria ist sich nur nicht sicher, ob er damit umgehen kann, wenn das Problem aus seiner eigenen Familie kommt.

Ich kenn’ da wen. Auf den Satz hatte er die vergangenen Stunden hingearbeitet. Das System funktionierte, die Wirtschaft fand ihren Weg. Endlose Telefonate, zwei verärgerte Kunden im Geschäft, um die er sich nicht kümmern konnte, aber es war geschafft. Über Umwege, und ohne das die Spur zu ihm führen würde, konnte er Einfluss auf die Familie des Mädels nehmen, mit der sein Sohn dieses Problem hatte. Jakov schlurft erschöpft nach Hause. Als ihn heute Morgen ein besorgter Geschäftskollege, Vater eines Freundes seines Sohnes, anrief und mitteilte, dass Alex in Schwierigkeiten steckte, hatte er zunächst einen Riesenschreck bekommen, sich dann aber schnell gefangen und begonnen das Problem zu lösen, bevor es wirklich eines gab. Das ist ihm wichtig, Frieden liegt ihm am Herzen. Er ist nicht vor Kriminalität, Korruption und Streit in dieses Land geflüchtet, um diesen Alptraum hier mit seiner Familie noch einmal zu erleben. In diesem Viertel hat er genug Verbindungen und genug Macht, um auch dem schlimmsten Feind beizukommen. Alex wird einige Zeit Abends nicht mehr ausgehen dürfen, aber das klärt er mit seinem Sohn später unter vier Augen. Die übrige Familie soll nichts mitbekommen. Seine Tochter ist furchtlos, aber so sehr um ihr Image bemüht wie alle Politiker und seine Frau … Seine Frau würde Spielchen spielen, sich viel Mühe geben und das Ganze als Familienprojekt betrachten und damit als Problem in ihrer ganz eigenen Domäne. Den Stress will er ihr ersparen. Er gesteht es sich ungern ein, aber am meisten Angst hat er vor seinem Sohn. Der ist auf die andere Seite der Stadt gezogen und Polizist geworden. Tochter in der Politik, Sohn im Staatsdienst. Er ist stolz auf seine Kinder, aber ihren Lebensentwürfen ist nicht zu trauen. Ihr Vater kommt darin nicht vor. Weder für seine Tochter noch seinen Sohn hat er noch eine bindende Funktion. Jakov hoffte deswegen inständig, dass Boris seine langjährige Freundin bald heiratet und eine eigene Familie gründet, denn dann hätte er wieder eine Aufgabe. Babysitter. Darauf freut er sich. Darauf und auf die Küche, die daheim auf ihn wartet. Er will heute etwas stilvolles Zaubern. Ein Gericht, das seiner Familie andeutet, dass ein Erfolg gefeiert wird, den er aber nur im Geheimen mit Alex teilen wird. Für ihn kann er noch etwas tun. Jakov sieht sich schon mit seinem Tee im Sessel sitzen und mit seinem Jüngsten ein ruhiges aber bestimmtes Gespräch führen. Es wird dann zwar nicht alles perfekt sein, aber zumindest friedlich.

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