Yasmin Alinaghi

Messias

Rio Nappo, Ecuador, 1996

Eva nervte Silke während der gesamten Zugfahrt von Riobamba nach Guayaquil. Sie wollte unbedingt den Markt in Otavalo besuchen. Die Fahrt mit der Dampflok war ein echtes Ecuador-Highlight. Es ging zwar bereits um sechs Uhr morgens los und um diese Zeit war es empfindlich frisch, immerhin lag der Abfahrtsort Riobamba auf 2.750 Höhenmetern. Trotzdem machte jeder zurückgelegte Meter Spaß. Wo konnte man schon völlig legal auf dem Dach eines Zuges fahren? Sogar fliegende Händler liefen über das Zugdach und boten gebratene Meerschweinchen am Spieß, Bananen und Getränke an. Eine willkommene Stärkung auf den 250 Kilometern nach Guayaquil, für die die Dampfeisenbahn zwischen zehn bis fünfzehn Stunden braucht. Ein Geschwindigkeitsrausch stand nicht zu befürchten. Aber vor den Stromkabeln, die teilweise sehr tief hingen, musste man sich in Acht nehmen, wie eine schmerzhafte Beule auf Silkes Stirn bewies. Die Temperatur stieg, je näher sie der Küstenebene kamen.

In Guayaquil angekommen, erschlug sie die Hitze schier; es herrschten schwüle 36 Grad – das perfekte Klima für Kakerlaken. Bei der hektischen Jagd auf diese ekeligen Viecher im Gemeinschaftsbad ihrer Backpacker-Unterkunft erhielten sie tatkräftige Unterstützung von zwei Dänen. Merle und Frederik zeigten ein ausgesprochenes Talent für die Kakerlakenjagd. Als besonders effektiv erwiesen sich dabei ihre Taucherflossen.

Beim Abendessen dauerte es nicht lange, bis Eva das Thema „Otavalo“ erneut auf den Tisch brachte. Merle bekundete, ebenfalls einen Pullover aus Lamawolle kaufen zu wollen. Frederik hatte genau wie Silke weder Lust auf das Hochland noch auf einen weiteren Indichino-Markt. Beim Nachtisch beschlossen sie daher, sich zu trennen bzw. sich neu zu mischen und sich eine Woche später in Quito wieder zu treffen.

Während Merle und Eva in die Hochebene nach Otavalo reisten, machten sich Frederik und Silke auf den Weg in das Flusstal nach Misahualli. Von dort wollten sie per Boot über den Rio Nappo in den Regenwald reisen. In Misahualli suchten sie die Hafenbehörde. Dort erhielten sie einen Stempel in den Pass, der sie zum Befahren des Flusses berechtigte. Für 25 US-Dollar sicherten sie sich einen Platz in einem der flussabwärtsfahrenden Holzkanus, die etwa zehn Personen fassten.

Kaum losgefahren, setzte ihr Boot auf einer Sandbank auf. Frederik unterstützte die Einheimischen mit einer Holzstange dabei, das Kanu aus dem seichten Wasser zu befreien. Bei diesem Manöver fiel Silkes Rucksack in den Fluss und blieb auf der sandigen Bank liegen. Der Gepäcksack samt Inhalt war nun triefend nass und folglich tonnenschwer. Nun, auf der sechsstündigen Fahrt bis Coca würden die Sachen in der sengenden Sonne ausreichend Zeit zum Trocknen haben.

Silke war gerade gemütlich eingedöst, als das Boot anlegte. Im Reiseführer stand, dass der Trip mit dem Kanu zu empfehlen sei, da die Möglichkeit bestehe, kleine Dschungeldörfer zu besuchen. Hier schien sich ein solches Dorf zu befinden, denn einige der Einheimischen stiegen tatsächlich in dieser Einöde aus. Einige? Nach kurzer Zeit befand sich kein Passagier mehr an Board und der Bootsführer erklärte kategorisch, die Reise ende hier. „Aber wir haben bis Coca bezahlt“, protestierte Silke. Der Kapitän schaltete auf Durchzug. Von Frederik, der lethargisch abwinkte, war keinerlei Unterstützung zu erwarten. Der Däne hatte sich den Magen verdorben und übergab sich im nahe gelegenen Gebüsch. Na prima, mitten im Urwald – und der vermeintliche Beschützer war zu nichts zu gebrauchen. Wie sang schon Chris de Burgh? „Don´t pay the ferryman …“ Ein typischer Anfängerfehler.So ein Mist!

Der Bootsführer zeigte in den Regenwald und erklärte ihnen, dass in ungefähr drei Kilometern ein Dorf komme. Von dort fahre ein Bus nach Coca.

Yasmin Alinaghi Kurzgeschichte: MessiasMissmutig machten sie sich auf den Weg. Was blieb ihnen anderes übrig. Frederik schlug sich alle paar Meter ins Dickicht. Inzwischen hatte er auch noch Durchfall. Das konnte ja heiter werden. Silke überlegte, ob der Gestank seiner Hinterlassenschaften die hier heimische Raubkatze eher abschrecken oder anlocken würde, als er einen lauten Schrei ausstieß und kurz, aber mit beachtlicher Sprungkraft, hinter dem Gebüsch emporsprang. Doch kein Ozelot hatte ihn attackiert, sondern eine Riesenkakerlake, die ihn mit einem gezielten Sprung an den nackten Hintern kurzfristig aus dem seelischen und körperlichen Gleichgewicht gebracht hatte.

Silke quälte sich auf dem Marsch durch den Urwald mit ihrem zu schweren, weil immer noch nassen, Rucksack ab. Gerade, als sie überlegte, ihre Last einfach im Dschungel stehen zu lassen, tauchten fünf Hütten, zwei schlaksige Jungs auf einem alten Gazelle Holland-Fahrrad und ein buntbemalter Bus vor ihnen auf. Es gab tatsächlich einen Bus. Wirklich geglaubt hatte sie es nicht.

„Wann fährt der Bus?“, fragt sie die beiden Schlakse.

„Dentro de tres días.“

„In drei Tagen? Ich glaube, ich spinne!”, schimpfte sie. „Es gibt in dieser Einöde keine Unterkunft, kein Wasser, nichts zu essen. Und wenn es dunkel wird, sticht die Tsetsefliege. Wir müssen unbedingt hier weg, und zwar möglichst schnell“, brüllte sie den Busch an, hinter dem Frederik erneut verschwunden war. Die Jungs auf dem Fahrrad verstanden kein Wort, schienen aber die Situation zu erfassen. Als der Däne wieder aus dem Dickicht hervor krabbelte, erboten sie sich, die gestrandeten Reisenden zur nahegelegenen Straße zu begleiten.

Mit weiteren drei Kilometern erwies sich „nahegelegen“ als relativer Begriff. Inzwischen war es stockdunkel. Wenn, dann hatte die Mücke längst zugestochen und die Schlafkrankheit übertragen. Oder war es Malaria? Egal, eine mögliche Erkrankung stellte im Moment ihr geringstes Problem dar. Einer der beiden Jungs bot Silke an, ihren Rucksack auf dem Fahrrad zu transportieren. Dankbar rieb sie sich die schmerzenden Schultern und fragte: „Wie heißt du?” Er antwortete ruhig: „Messias.” Sie lachte spontan auf und dachte bei sich:

„Wahrlich, er ist der Messias“. Als sie die Schotterstraße erreichten, trauten sie ihren Augen kaum. Mitten im Nichts donnerte ein riesiger Kipplaster nach dem anderen die Schotterpiste entlang. Endlich schien Frederik wieder zum Leben erwacht zu sein, denn er warf sich quasi vor einen der Laster, der stoppte und sie tatsächlich mitnahm. Silke war froh, dass ihnen auf der Ladefläche kühle Luft um die Nase wehte. Gegen Mitternacht, nach weiteren drei Stunden ruckeliger Fahrt, gelangten sie schließlich in Coca an. Es war Samstag, und in der Stadt wimmelte es von Erdölarbeitern. Im Hotel „El Dorado” gab es nur noch Mehrbettzimmer ohne Klimaanlage und mit Gemeinschaftsbad, aber das war ihnen egal. Das Zimmer war sowieso menschenleer. Frederik verschwand sofort auf der Toilette, die nur durch einen Vorhang vom Schlafsaal abgetrennt war. Sabine ignorierte die eindeutigen Geräusche und ließ sich erschöpft auf ihr Lager fallen. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, wo sich ihre Zimmergenossen um diese Zeit herumtrieben.

„Was kann man im Dschungel schon groß unternehmen?“, überlegte sie kurz vor dem Einschlafen. Als das Hotelzimmer vom hauseigenen Discobass erschüttert wurde und ihre Matratze begann, zu den Klängen von „One way ticket …“ zu vibrieren, schlief sie längst tief und fest.

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