Malte Klingenhäger

Mein Drei-Tage-Bart lügt

Malte Klingenhäger Kurzgeschichte: Mein Drei-Tage-Bart lügt18 Minuten. Das ist exakt die Zeit, die ich jeden Morgen für mein Styling brauche. Optimierte Bewegungen, topmoderner Bartschneider, Motivationsmusik aus meinem Schlafzimmer – Dinge, über die man lachen könnte, über die ich selbst lachen könnte, wenn 18 Minuten nicht eine Ewigkeit wären – durch die ständige Wiederholung noch einmal gedehnt – die ich lieber im Bett verbringen würde. Nackt, warm und unendlich glücklich. Stattdessen stehe ich mit kalten nassen Haaren, verspanntem Nacken und hochkonzentriert vor dem Spiegel, der glänzenden Quell aller Unsicherheit und Überheblichkeit – je nach Tagesform.
Styling dauere bei ihm nie so lang, hat mein Kollege behauptet. Aber ich will mich ja nicht stylen, ich will mich Retro-stylen. Und mit Retro meine ich kein Styling wie vor 20 Jahren. Ich meine Styling wie gestern – aussehen wie einer, der sich gestern noch gründlich stylte, den aber heute irgendetwas davon abgehalten hat. Das zeigt den Ladys:

a) Es gibt Dinge, die zwischen mich und meinen Spiegel passen. Potenziell heiß, aber beherrscht!
b) Es muss heute irgendetwas passiert sein, das meine Prioritäten durcheinander brachte. Mystery-Bonus!
c) Wenn mein rastloser Blick dann doch an ihr kleben bleibt, sieht es aus, als würde die Zeit für mich stillstehen. Das ist Hollywood. Das ist Liebe.

Einer dieser Punkte wird eines Tages den Unterschied zwischen mir in einem geregelten Arbeitsverhältnis und mir in einer Führungsposition in der Firma meiner Frau ausmachen. Ich bin mir dessen sicher. So sicher, dass ich jeden Morgen 18 Minuten vor dem Spiegel stehe und den immer gleichen Kram mache, denke und erleide, bevor ich wie jetzt das Haus verlasse.
Gegenüber dem alten Buddenturm trete ich auf die Straße. Er grüßt mich, ich grüße ihn, wir beide grüßen uns auf die Art der Türme: eher schweigsam, aber phallisch erhaben. Er gewinnt.
In meinem Fahrradkorb liegt die Einladung zu einer 20ger Jahre Party: das Bild einer Tänzerin, nachträglich schwarz-weiß konvertiert, bis auf die Lippen, die rot eingefärbt sind. Ihr Gesicht mit Photoshop geglättet. Der Hochglanz der Karte überträgt sich auf ihre Haut. Kein Mensch sieht so aus. Aber auf einem solchen Flyer ist flunkern normal. Design und Style sind ehrliche, bewusste Künstlichkeit und keine Lüge, sind optisches Dramatisieren und kein Zufall. Weil jeder weiß: Poren sind was von gestern, Falten haben eine Funktion, deine Mudder wird nie das Covergirl der Vogue.
Mein Jackett flattert im kühlen Wind dieses Frühlingsmorgens, aber ich darf es nicht zuknöpfen, denn dann spannt es und die Dynamik geht verloren. Und das bin doch ich, auf dem Fahrrad, geschwind über die Promenade, am Buddenturm vorbei. Vorbei an zwei jungen Nerd-Brillen-Trägern, die dort lethargisch auf einer Parkbank sitzen. Nur der Hipster weiß, ob er ein Hipster ist. Offene Lügen sind Werbung, gefeierte Lügen sind Camp. Nur ein bewusster Nerd ist ein Hipster, nicht jeder Hipster ein Nerd, nur die heimliche Performance wirklich eine Lüge, so wie mein Drei-Tage-Bart.
Was bin ich dann?
Genau 5 Minuten zu spät und das ist schlecht, denn ich bin der Hüter des Copyshop-Schlüssels. Der Torwächter meiner derzeitigen Arbeitsstelle. Doch als ich ankomme, steht noch niemand vor der Tür. Dafür sitzt der Obdachlose dort, der täglich auf das Wechselgeld der heraustretenden Kundschaft hofft. Er schaut mich stellvertretend für meinen wohl verspäteten Kollegen böse an. Ich habe den Penner um 5 Minuten seines täglichen Verdienstpotenzials gebracht. Wer weiß, wie viele Kunden schon da waren? Zwei? Drei? Hat der Penner eigentlich Einfluss auf seinen Style? Er wirkt so detailverliebt verwahrlost, so extravagant verkommen, so zuverlässig schlodderig. Hat er eine Wahl, obwohl er kein Geld hat? Und wieso ist mein Kollege noch nicht da, wo er doch so viel weniger Zeit zum Stylen braucht?
Ich flüchte vor den Fragen in den Laden, dieser Karrierefalle, in der ich nie eine reiche Frau finden werde, nur junge hübsche Studentinnen und versuche meine Gedanken mit dem Radio zu vertreiben, aber der einsetzende Song will bloß, dass ich mit mir unbekannten Freunden klarkomme, um als Lover die nötige Akzeptanz zu finden. So weit so tight – aber ganz ehrlich, das reicht nicht, wenn man eine aufkommende Existenzkrise verdrängen will. Da hilft nur: der feste Glaube an sich selbst und seine Träume. Denn wenn ich nur fest genug an mich glaube, dann kann ich alles schaffen – so wie alle es tun, die sich aufmachen, ihre Träume zu verwirklichen. Glauben bis es weh tut. Teil der traumhaften Masse werden. Oder wenigstens so aussehen.


Diese Kurzgeschichte erschien auch in folgender Anthologie:
Bleib, wie du bist!
Coppenrath Verlag 2016
ISBN: 978-3-649-66958-6
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