Malte Klingenhäger

Gepfändeter Tag

12-2012-Malte-Kurzgeschichte-Apokalypse-LHBedächtig stapfte der alte Lukas etwas abseits des Weges durch den Wald. Eigentlich, dachte er, sollte es doch langsam wieder hell werden, aber vielleicht war auch sein Zeitgefühl aus dem Takt. Er hatte die Nacht im alten Jagd-Unterstand verbracht und bitterlich gefroren. Deswegen war er früher wach geworden als sonst. Allerdings schienen auch seine beiden Terrier vom neuen Tag noch nicht recht überzeugt und hielten sich in seiner Nähe, statt wie üblich weit vorneweg durch das Geäst zu tollen. Lange würde er ihnen diesen Luxus nicht mehr bieten können. Bald würde es zu kalt werden und sie müssten allesamt in die Stadt zurück. Also sollten sie ihre Freiheit gefälligst genießen, solange es noch ging, dachte Lukas mitleidig.

Dann rieb er sich fluchend die Hände. Ihm wollte einfach nicht warm werden. Er hatte sich alte Wahlprogramme als Kälteschutz unter seinen Pullover gestopft, aber heiße Luft schien sich nicht drucken zu lassen. Stattdessen nahm ihm das Papier bloß seine Beweglichkeit. So langsam, wie er vorwärts kam, war es kein Wunder, dass er fror. Lukas beschloss, noch heute Nacht wieder nahe der Stadt Quartier zu machen. Nur für alle Fälle.
Plötzlich sah er ein Licht zwischen den Bäumen glimmen. Es glänzte und glitzerte in warmen Farben auf der feuchten Rinde. Kam die Sonne heute noch vor der Morgendämmerung? Das war unmöglich.
Lukas pfiff seine Hunde zu sich und nahm sie an die schmutzige Kordel, die ihm als Leine diente. Vorsichtig schritt er auf das Licht zu und erblickte bald eine Gruppe Menschen, die, seltsam gekleidet und mit Fackeln bewehrt, auf dem Waldweg in Richtung des Zeltplatzes wanderten. Sie trugen helle Gewänder, auf denen das flackernde Licht der vielen Feuer scharfe Schatten warf. Sie schritten so bedächtig und leise, als wandelten sie auf einem Teppich tragischer Gedanken.

Flieder, der frechere der beiden Terrier, begann, die seltsame Prozession energisch anzubellen, bis Lukas sich herunterbeugte und ihm den Mund zuhielt. Der Hund jaulte, die Gruppe marschierte indes unbeeindruckt weiter. Nur ein junges, kurzhaariges Mädchen drehte sich kurz zu ihm um, bis sie sich an irgendetwas zu erinnern schien und den Blick wieder auf ihren Vordermann richtete. Bald waren die nächtlichen Wanderer hinter einer Biegung des Waldweges verschwunden und bloß ein Restschein ihrer Lichter glitzerte noch in der Ferne. Vorsichtig setzte sich Lukas auf einen bemoosten Baumstumpf und ließ seine Hunde wieder frei. Die beiden Terrier schienen die seltsame Begegnung schon vergessen zu haben. Nicht so Lukas, der, während ihm die Feuchtigkeit des Baumstumpfes langsam in den Hosenboden kroch, angestrengt nachdachte. Wenn die Gruppe wirklich auf dem alten Zeltplatz im Wald campierte, würde sich ein kleiner Umweg für ihn lohnen. Im Sommer sammelte er die Getränkeflaschen ein, die die feierwütigen Jugendlichen nach ihren Gelagen dort zurückließen. Selbst wenn nur Familien dort übernachteten, war eine Menge abzugreifen. Dann fand er zwar keine Bier- dafür aber Plastikflaschen, die leichter zu tragen waren und mehr Pfand brachten. Die Fackelträger von grade wirkten zwar etwas ungewöhnlich, aber auch harmlos. Sie würden ihn sicherlich nicht verscheuchen, wenn er sich bei ihnen etwas umsah. Vielleicht bekam er sogar etwas zu essen.
Damit war die Entscheidung gefallen. Lukas stand schwerfällig auf, rief nach seinen Hunden und machte sich auf den Weg zum Zeltplatz.

Als er dort ankam, war es noch immer nicht heller geworden. Dafür schien es jetzt sogar ein wenig kälter zu sein, wie Lukas verwundert feststellte.
Er näherte sich der Schranke der Parkplatzes. Auf dem angrenzenden Rasen sah er ein paar äußerst große Zelte stehen, die wie graue Monumente im Dämmerlicht standen und ihrerseits nur von den Fichten überragt wurden, die das Gelände umgaben. Die Gruppe schien sich bereits schlafen gelegt zu haben. Vom Rauschen des Windes, dem Hecheln der Hunde und Lukas leisen Schritten auf dem modrigen Boden einmal abgesehen, war es absolut still. So, wie Lukas es mochte.
Er umrundete den Rasen in Richtung des Küchenhäuschens, hinter dem die großen Müllcontainer standen. Tatsächlich fand Lukas einige Plastikflaschen, die er eifrig in seinem Jutebeuteln verstaute. Es waren nicht so viele, wie erhofft, aber vielleicht lagen auf dem Rasen noch weitere. Auf dem Weg dorthin blieb er jedoch verwundert auf dem Parkplatz stehen, auf dem ein einzelner, zugegebenermaßen großer Bulli stand, der niemals ausgereicht haben konnte, die Zelte – geschweige denn all die Leute – zu transportieren. Auch seine Hunde schienen von dem einsamen Wagen irritiert. Sie liefen zu ihm und beschnupperten ihn aufgeregt. Er war dunkelblau lackiert und anscheinend ein ausländisches Fabrikat. Vielleicht aus den USA, Lukas kannte sich da nicht aus. Er umrundete das Gefährt einmal, dann überwand er sich und versuchte durch eines der Seitenfenster zu gucken. Wenn das der Getränketransporter der Gruppe war … – aber nein, er wollte sich keine Hoffnungen machen. Trotzdem drückte er seine Nase noch fester an das verspiegelte Fenster und schirmte seinen Blick mit den Händen ab. Dann erschrak er so heftig, dass er mit einem erstickten Schrei nach hinten in den Morast fiel und sich gewaltig den Kopf stieß.

Im Innern des Bullis hielt Andi die Schrotflinte noch immer gegen das Fenster gepresst. War der Spinner verschwunden? Er hörte einen Hund bellen. Zögerlich legte Andi die Flinte neben sich auf die Matratze, zog sich seine Hose an und warf die Lederweste über. Dann schaltete er die Innenbeleuchtung an, nahm die Waffe wieder in die Hand und schob mit dem Fuß die große Seitentür auf. Draußen blickten ihn zwei kleine Hunde vorwurfsvoll an. Sie flankierten einen alten Penner, der rücklings auf dem Boden lag und sich ächzend aufzurichten versuchte. Ungerührt klemmte Andi sich die Flinte zwischen seine Beine, fischte ein Haargummi aus dem Seitenfach und band sich seine langen, braunen Haare zu einem Zopf.

“He, du Lappen! Was sollte das denn werden?” rief er dem noch immer am Boden liegenden Mann zu.
Der Alte rollte sich auf die Seite und stützte sich mit einem Arm vom Boden ab.

“Wollte nur gucken. Musst ja nicht gleich so aggressiv sein”, murrte er hustend und klopfte sich ein paar feuchte Blätter von seinem Pulli.

Andi sicherte seine Flinte und stellte sie neben dem Beifahrersitz ab. Dann schob er die Matratze in den hinteren Bereich seines Wagens zurück und ließ sie einrasten. Die Frontsitze drehte er herum und hatte so mit ein paar geübten Handgriffe sein Schlaf- in ein Wohnzimmer verwandelt. Er setzte sich in den Fahrersitz und steckte sich eine Zigarette an. Dann winkte er den Alten herüber.

“Setz dich”, forderte Andi ihn auf und griff in die Kühlbox. “N’ Bier?” fragte er. “Die Hunde musst du allerdings draußen anleinen. Ich mag Tiere, aber nicht in meinem Chevy.”

Der Penner stand langsam auf, klopfte sich noch einmal ab und stieg dann in den Wagen. Er ließ sich aufs Sofa fallen und scheuchte mit seinem Fuß einen seiner Hunde fort, der ihm nachklettern wollte.

“Die brauch ich nicht anleinen, die bleiben freiwillig bei mir. Nur bei vielen Menschen mache ich sie fest,” erklärte der Alte.

Die beiden Männer stellten sich vor, aber Andi vermied es, dem Penner, der sich Lukas nannte, die Hand zu geben. Dafür drückte er ihm die versprochene Flasche Bier in die Hand und nahm einen tiefen Schluck aus seiner eigenen.

“Ich war eben bloß neugierig. Gehörst du zu der Gruppe dort?” fragte Lukas und zeigte durch die offene Tür auf die großen Zelte.

“Nicht wirklich, das sind Sektenspinner”, antwortete Andi. “Ich bin bloß aus dem gleichen Grund hier.”

“Zelten mit Gott?” bemerkte der alte Lukas mit einem zarten Lächeln auf den Lippen, dass Andi seiner grobschlächtigen Visage gar nicht zugetraut hätte.

“Nein, die warten auf die Apokalypse. Angeblich ist es heute so weit und ihr Oberguru hat ihnen verraten, dass dieser Ort eine Art sicherer Hafen ist.”

“Und du?”

“Ein Kollege von mir ist eine Zeitlang mit einer von denen zusammen gewesen. Die hat ihn missionieren wollen, da hat er sie abgeschossen. Von dem hab ich das mit dem heiligen Hügel hier.”

“Und du glaubst an das Ende der Welt?” fragte Lukas und da er ehrlich interessiert wirkte, entschloss Andi sich zu antworten.

“Nein, aber ich mag die Vorstellung. Alles platt, keine Verpflichtung, so wie in diesen Filmen. Nur du, dein Wagen und die weite Welt.”

Jetzt lachte der Alte doch.

“Und dafür musst du warten?” fragte er belustigt.

“Ich warte ja nicht wirklich drauf, aber ich hatte nichts zu tun und wenn an diesem Ort die Chancen besser stehen, den Untergang zu überleben – warum dann nicht die Nacht hier verbringen statt anderswo?”

Der Alte schmunzelte noch immer. Dann blickte er durch die offene Tür nach draußen. “Apokalypse …”, murmelte er. “Ich habe mich schon gewundert, warum es nicht richtig hell wird.”

“Vielleicht hat es sich zugezogen?” mutmaßte Andi.

“Dann wird es nicht gleichzeitig kälter. Wie spät ist es denn?”

“Die Uhr im Armaturenbrett ist verstellt, tut mir leid.”

“Hast du keins von diesen Bimmeldingern?”

“Ein Handy?” Andi schüttelte den Kopf. “Ich fahre in meinem Urlaub durch die Gegend, weil ich für mich sein möchte. Ich will nirgends hin, geschweige denn irgendwo ankommen. Erreichbarkeit passt mir da nicht ins Konzept.”

“Und wenn du eine Panne hast?”

“Wer seinen Wagen nicht selbst reparieren kann, wäre nicht gut auf den Weltuntergang vorbereitet, nicht wahr?” gab Andi zu bedenken.

Da musste Lukas zustimmen. Sie tranken ihr Bier und der Alte entschuldigte sich noch einmal dafür, herumgeschnüffelt zu haben. Die Hunde hatten sich derweil anscheinend an die neue Situation gewöhnt, und stromerten munter um den Wagen herum. Andi reichte seinem Gast eine weitere Flasche. Er war froh über die eiskalte Luft, die ihm in der Nase brannte und seinen Geruchssinn betäubte. Er mochte sich nicht ausmalen, wie sehr der Penner stank. Dafür erzählte er allerhand amüsantes Zeug über den Zeltplatz und die Leute, die er hier schon getroffen hatte. Andi war zum ersten Mal in der Gegend und hörte aufmerksam zu.

“Glaubst du nicht, dass du nur solange alleine sein willst, wie du dich freiwillig dazu entscheiden kannst?” fragte ihn der Alte plötzlich. Andi ließ sich ein wenig Zeit mit der Antwort und knibbelte stattdessen das Etikett von seinem Bier.

“Es geht mir nicht ums Alleinsein, ich möchte nur keine Verantwortung mehr für irgendjemand anderen tragen müssen, als für mich selbst. Habe viel Scheiße erlebt”, sagte er schließlich und zuckte hilflos mit den Schultern.

“Ich glaube, dass, wenn es einen totalen Neustart gibt, meine Fähigkeiten, mein Wissen, mein Wesen, einfach alles an mir an Wert gewinnt.”

“Wieso?”

“Weil es keine anderen Maßstäbe mehr gibt, als meine eigenen und das Überleben.”

“Vielleicht ist das, was du suchst, näher als du denkst”, gab Lukas vorsichtig zu bedenken.

“Die Welt wird schon nicht untergehen.”

“Die meinte ich auch nicht”, flüsterte Lukas so leise, dass Andi ihn kaum hörte. Der Alte begann ihn nun doch zu nerven. Er war müde und wusste selbst nicht mehr so genau, was er hier machte. Außerdem sah er keine Verpflichtung, sich gegenüber dem Penner rechtfertigen zu müssen.

“Ich denke, ich leg mich nochmal was hin”, verkündete er und Lukas, der die Aufforderung verstand, erhob sich langsam. Er hinterließ einige Blätter auf dem Polster, als er aus dem Wagen herauskletterte.

“Danke für das Bier”, sagte der Alte und hob die Flasche zu Abschied.

“Danke für die Gesellschaft”, entgegnete Andi und tat es ihm gleich.

Lukas rief nach seinen Hunden und drehte sich noch einmal zum Wagen um, als Andi grade die Tür zuziehen wollte.

“Wirst du das Pfand einlösen, oder kann ich die leeren Flaschen haben?” fragte der Alte.

Andi überlegte einen Augenblick, während er über Lukas Kopf hinweg in die Dunkelheit starrte, dann griff er hinter sich und reichte die drei leeren Bierflaschen nach draußen.

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